: Der Junge mit dem Aufziehschlüssel
GROSS UND KLEIN Ein surrealer und düsterer Ort, an dem die Zeit still steht und sich alles wiederholt, das ist die Kindheit in „Zeit der Wölfe“. Alexandra Broeder, Regisseurin aus Amsterdam, hat das Stück für das HAU inszeniert
Wenn erwachsene Schauspieler kleine Kinder spielen, dann befindet man sich vermutlich im Grips-Theater oder einem der anderen Häuser, die in Berlin Stücke für ein kindliches Publikum herausbringen. Wenn man aber Kindern zuschaut, die sich vorstellen, wie es sein wird, erwachsen zu sein, dann befindet man sich höchstwahrscheinlich im HAU.
Dort brachte, noch unter dem Intendanten Matthias Lilienthal, die Gruppe Gob Squad 2011 „Before Your Very Eyes“ heraus: Sieben Kindern sah man dabei zu, die in siebzig Minuten einen Schnelldurchlauf durch die Zukunft probten und das Erwachsenwerden als traurige Deformation und verlustreiche Reduktion karikierten. Als Verengung des einstigen Potentials der möglichen Optionen schien da, was man gemeinhin Entfaltung nennt und das war bei aller Witzigkeit auch bitter.
Jetzt hat Annemie Vanackere, Nachfolgerin Lilienthals, die Amsterdamer Regisseurin Alexandra Broeder eingeladen, die schon in mehreren Stücken die Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern erforscht hat. „Zeit der Wölfe“ heißt ihre erste Produktion für das HAU, besetzt mit Kindern und einem Knabenchor aus Berlin. Die bewohnen auf der Bühne einen dunklen Ort, einen verfallenden Jahrmarkt, auf dem sie selbst, als Clowns und Krankenschwester kostümiert, die Ausstellungsstücke bilden. Luftballone, Dreiräder, Teddybären und ein großer Aufziehschlüssel, der einen kleinen Jungen selbst in ein wie aufgezogen laufendes Spielzeug verwandelt, setzten zwar fette Zeichen für eine Welt, die eigens zum Vergnügen des Kindes eingerichtet wurde. Aber unbefangen spielt hier niemand damit.
Vielmehr sind diese Mädchen und Jungs, die aus Büchern der Erinnerung wieder und wieder die gleichen Sätze vorlesen, alle Gefangene einer nostalgischen Sehnsucht – wie der trostbedürftige Erwachsene sich Kindheit eben rückblickend ausmalt. Alles, was man über sie erfährt, erfährt man aus dem Abstand zeitlicher Entfernung. Das Kind, das literarische oder theatralische Figur wird, ist immer schon eins, das die Gegenwart der Kindheit verlassen hat.
Deshalb sind die Bilder, die Broeder entstehen lässt, umso verblüffender, weil sie mit realen Kindern besetzt sind. Bühnenbild und Kostüme spielen die Differenz zwischen klein und groß aus, alles ist verniedlicht und zugleich grotesk verzerrt. Geschickt umkreisen sich die Figuren in Schleifen im Raum und in der Zeit.
Die Kinder halten Reden voll unterdrücktem Zorn, gerichtet an den Erwachsenen, der vergessen will, was vom Kind noch immer in ihm steckt. Mit Pappschildern wird das illustriert: „Deine Unruhe“, „Deine Rituale“, „Deine Angst, etwas zu verpassen“. Da bricht Ambivalenz ins Kindheitsmuster ein, neben die Wehmut rückt das Verleugnen. Die kleinen Protestschildhalter stehen für verdrängte Ängste, gefürchtete Schwächen, die nie endende Schmach des Versagens.
Dieser Ansatz ist vielversprechend. Allerdings kommt der Abend nicht sehr weit darüber hinaus. Schon im Titel, „Zeit der Wölfe“, und auch in den stark überschminkten Gesichtern, in der suggestiv unheimlichen Soundkulisse, legt er sich an mit dem Genre des Horrorfilms, das viele beängstigende Kinder kennt. Doch dieser starken Konkurrenz, die von Verwandlungen und Schwellensituationen nur so wimmelt, hält das Tableau auf der Bühne dann doch zu wenig entgegen. Es bleibt ein verwunschener und zeitloser Ort, ohne besondere Verortung in der Geschichte von Disziplinierung, Erziehung, Verklärung. Das ist, bei aller Pracht der Bildsprache, dann doch etwas wenig.
KATRIN BETTINA MÜLLER
■ wieder am 6. April, 19:30 Uhr, HAU 2