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Archiv-Artikel

„So kann man nicht umgehen mit Menschen“

AUSBILDUNG II Finanzielle Aspekte überwiegen wohl Berufsethik, sagt Therapeut Christoph Stößlein

Christoph Stößlein

■ 56, ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut sowie Vorstandsmitglied der Psychotherapeutenkammer Berlin.

taz: Herr Stößlein, wofür steht die Abkürzung „PiA“? Für „Psychotherapeuten in Ausbildung“ oder nicht doch eher „in Ausbeutung“?

Christoph Stößlein: Formal für Ersteres, aber die Kritik der angehenden Psychotherapeuten an ihren Ausbildungsbedingungen ist völlig berechtigt. Sie müssen eine Praxisphase in einer psychiatrischen Klink absolvieren, deren Sinn und Zweck eigentlich klar gesetzlich geregelt ist: Störungsbilder sowie deren Diagnostik und Behandlung kennen lernen, alles unter fachkundiger Anleitung.

Was ist das Problem?

Faktisch machen die PiAs heute nicht nur einen großen Teil der Testdiagnostik, sondern geben auch Gruppen- und Einzeltherapien – oft ohne direkte Anleitung. Das ist ein zweifaches Foul: zum einen gegen die Auszubildenden, die viel mehr machen, als sie sollen und dürfen. Zum anderen gegen die ausgebildeten Psychologen und Psychotherapeuten. Die finden dann eben keine Anstellung, weil die Klinken mit den billigen PiAs arbeiten.

Warum machen die Kliniken das?

Offenbar überwiegen da finanzielle Aspekte die Berufsethik. Denn natürlich ist dieses Modell kostengünstiger, doch die Kliniken riskieren damit eine erhebliche Verschlechterung ihrer Qualität. Denn sie werfen in vielen Fällen junge Leute ohne gute Einführung, ohne Supervision ins kalte Wasser mit schwer kranken Patienten. So kann man mit Menschen nicht umgehen.

Viele PiAs bekommen für ihre Tätigkeit überhaupt kein oder nur sehr wenig Geld.

Es ist absolut richtig und notwendig, dass etwas bezahlt wird. Allerdings befürchten wir als Kammer, dass die Kliniken ihre Ausbildungsplätze abbauen, wenn sie diese entsprechend vergüten müssen. Es darf nicht sein, dass da nötige Kapazitäten wegbrechen. In ländlichen Regionen wird noch um PiAs geworben, sie bekommen eine Bezahlung und manchmal ein Zimmer zum Wohnen. Doch in Ballungszentren wie Berlin herrscht schon jetzt große Konkurrenz um die bestehenden Plätze.

Wie ist es überhaupt zu diesen prekären Bedingungen gekommen?

Wir müssen da als Kammern Selbstkritik üben. 25 Jahre lang haben alle darauf hingearbeitet, diesen Beruf zu definieren und zu regeln. Das geschah dann 1999 mit der Verabschiedung des Psychotherapeutengesetzes. Dann waren alle mit dem Aufbau von Beschwerdemanagement, Berufs- und Fortbildungsordnung beschäftigt, sodass lange keiner von diesem blinden Fleck in der praktischen Tätigkeit in der Ausbildung Notiz genommen hat.

Der lange Weg zum Psychotherapeuten

■ Ein Psychologie-Studium ist der erste Schritt zur Arbeit als psychologischer Psychotherapeut. Wer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut werden will, kann auch Pädagogik oder Sozialpädagogik studieren.

■ Darauf folgt eine bis zu 30.000 Euro teure Ausbildung bei einem staatlich anerkannten Institut, die in Vollzeit mindestens drei, in Teilzeit mindestens fünf Jahre dauert. In Berlin führt das zuständige Landesamt für Gesundheit und Soziales 21 solcher Institute auf – die meisten in privater, manche in universitärer Trägerschaft.

■ Die Ausbildung besteht aus verschiedenen Teilen: 600 Stunden Theorie in Vorlesungen, Seminaren und Übungen. Mindestens 120 Stunden Selbsterfahrung unter professioneller Anleitung. Die praktische Ausbildung mit 600 Stunden Behandlung von einzelnen Patienten unter Supervision eines erfahrenen Therapeuten. Und die praktische Tätigkeit: Dazu gehören 600 Stunden in einer psychotherapeutischen oder psychosomatischen Einrichtung, zum Beispiel einer Beratungsstelle, und 1.200 Stunden in einer psychiatrischen Klinik. Die Rahmenbedingungen dieser praktischen Tätigkeit kritisieren Psychotherapeuten in Ausbildung seit Jahren heftig. (sepu)

Und nun?

Wir haben die PiAs, so weit es rechtlich geht, in die Kammern integriert, haben Curricula und Empfehlungen zur Supervision herausgegeben. Wenn diese von den Kliniken umgesetzt würden, hätten wir schon etwas erreicht. Um eine grundlegende Verbesserung zu bewirken, muss es eine Reform des Psychotherapeutengesetzes geben. Die hat Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr schon Ende 2011 zugesagt. Passiert ist bisher nichts.

INTERVIEW: SEBASTIAN PUSCHNER