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Archiv-Artikel

Vom brutalen Realen dieser irrationalen Gewalt

Schriften zu Zeitschriften: Christoph Türcke bezweifelt in „Literaturen“ die Entzauberung der westlichen Konsumwelt, Slavoj Žižek vollzieht in „Lettre“ die Unruhen bei Paris nach

Passte es nicht wunderbar zum eigenen „post“-utopischen Lebensgefühl, als der Philosoph Jürgen Habermas nach den Anschlägen vom 11. September ein „postsäkulares“ Zeitalter heraufziehen sah? Habermas attestierte den ungläubigen Enkeln der Moderne, dass selbst ein religionsfernes Empfinden für wahr und falsch, etwa bei der Gentechnik oder im Umweltschutz, letztlich immer noch vom „Wahrheitspotenzial“ der althergebrachten Religion und ihren „Sensibilitäten für ein verfehltes Leben“ zehre.

Dabei müsste sich in der entzauberten Welt mit ihrem gesteigerten Bedarf an weltanschaulich aufgeputzten Selbsttechniken niemand mehr seiner privaten religiösen Andacht schämen. Doch ob das schon der entscheidende mentale Brückenschlag ist, um sich auch in jene Menschen einfühlen zu können, die jenseits der westlichen Wohlstandsmauer (und manchmal darüber hinweg) im Namen Gottes randalieren? Vielleicht hat man ja wieder einmal bloß übersehen, dass sich auch die ideologiefreie Macht des Marktes als ein im Kern religiöses Phänomen begreifen lässt.

Im aktuellen Heft der Zeitschrift Literaturen bezweifelt der Leipziger Philosoph Christoph Türcke, dass sich die moderne westliche Lebenswelt überhaupt jemals konsequent entzaubert hätte. Türcke behauptet, dass die demokratischen Ideale und die strikte Trennung von Staat und Kirche in ihrer Entstehung durch den egalitären Markt der Warenbeziehungen vorgezeichnet worden seien. Allmählich sei dem Markt selbst, an der Kirche und dem von ihr schon lange praktizierten Ämterkauf vorbei, die kultische Dimension einer „zentralen Vergesellschaftungskraft“ zugewachsen, die seitdem über die Geschicke des Einzelnen entscheide: „Während sich um den Markt ein säkularer Staat bildet, hört der Markt selbst auf, etwas bloß Profanes zu sein.“

Türcke zufolge begreife sich der Islamismus daher als Abwehr einer allseitig verinnerlichten mentalen Anfechtung – der „christlichen“ Ausgeburt des Marktes: „Erst wer den kapitalistischen Weltmarkt als religiöses Phänomen ernst nimmt, versteht das enorme Aggressionspotenzial in der Welt gegen den ‚Westen‘ – und die Tatsache, dass es sich zunehmend in religiöser Sprache ausdrückt.“ Das soll niemanden entschuldigen. Doch da es für Türcke in der Rationalität des Marktes kein wunschloses Denken gibt, ist für ihn „noch der rigoroseste Vernunftanspruch … theologisch infiziert“.

So wird verständlich, dass der slowenische Philosoph Slavoj Žižek angesichts der jüngsten Unruhen in den französischen Vorstädten seinen Lesern erklären will, weshalb sich Gewalttätigkeit nicht unbedingt zweckrational aus der individuellen Absicht der Handelnden heraus erklären lässt. In der neuen Ausgabe der Zeitschrift Lettre schreibt Žižek, dass es schon bei Selbstmordattentätern zu karikaturhaften Verzeichnungen führe, wenn man den Blutlohn von 400 im Paradies wartenden Jungfrauen als ein verführerisches Handlungsmotiv interpretiert: „Man lässt den anderen gerade durch das Bemühen, ihn uns ähnlich zu machen, als lächerliche und seltsame Gestalt erscheinen.“

Rational nachvollziehbar werde individuell destruktives Handeln erst auf einer gesamtgesellschaftlichen Deutungsebene: „In unserem Zeitalter der ‚Postpolitik‘, in dem die eigentliche Politik zunehmend durch die Verwaltung der Gesellschaft durch Experten ersetzt wird, sind kulturelle (religiöse) oder natürliche (ethnische) Spannungen die einzig übrig gebliebene legitime Quelle von Konflikten.“ Dass diese Gewaltausbrüche aus der Perspektive ihrer Urheber nutzlos blieben, erkläre sich aus der „Reflexivisierung unseres Alltagslebens“. Damit meint Žižek die „frustrierende Freiheit“ einer Risikogesellschaft, in der alle Lebensbereiche ausnahmslos als etwas erlebt würden, „das man erlernen und für oder gegen das man sich bewusst entscheiden kann (…) ohne sich über die Konsequenz im Klaren zu sein“.

Auch Žižek erkennt daher den irrationalen Kern eines aufgeklärt-liberalen Gesellschaftsentwurfs von seinen Rändern aus: „Das neuerliche Auftreten des brutalen Realen der ‚irrationalen‘ Gewalt, das gegenüber einer reflexiven Deutung unzugänglich ist und kein Verständnis für diese hat, ist die notwendige Kehrseite der universalisierten Reflexivität, die von den Theoretikern der Risikogesellschaft gepriesen wird.“ Man versteht: Wer in der Risikogesellschaft reüssiert, der hat auch Religion.

JAN-HENDRIK WULF

Literaturen 12/2005, 7,50 €ĽLettre International 71, 9,80 €