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Archiv-Artikel

Wunden und Wunder

Imaginationskraft stößt auf Rechnerleistung: Das New Yorker Museum of Modern Art ehrt die Animationsfirma Pixar mit einer großen Ausstellung – ein Ritterschlag von der Hochkultur

Schwerkraft, Schallmauern, Reisebudgets – all das setzt keine GrenzenDiese Welt ist so voller Wunder, dass eine erlösende Existenz möglich erscheint

VON TOBIAS MOORSTEDT

Die Rolltreppe ist ein langsames Fortbewegungsmittel, die Reisegeschwindigkeit reicht nicht aus, um Spielchen mit der menschliche Wahrnehmung zu treiben. Mit zwei Stundenkilometern fährt der Besucher hinab in den Keller des Museum of Modern Art in New York, alle zwei Sekunden taucht auf der rechten Wand eine Comicfigur auf, André, die erste Schöpfung der Firma Pixar. André tanzt, staunt, lacht, fällt in Ohnmacht. Würde sich der Besucher nun 48-mal schneller bewegen, entstünde aus den sechs Einzelbildern eine flüssige Bewegung – Rolltreppenkino.

Aber Filmschauen ist nicht der Zweck der Ausstellung „Pixar – 20 Years of Animation“. Die knallbunten und durchgeknallten digitalen Animationsfilme wie „Toy Story“ oder „Finding Nemo“ werden verlangsamt, unter der Lupe betrachtet, bis die Pixelorgien in ihre Bestandteile zerfallen, in Einzelbilder, aber auch in die verschiedenen Stufen des Produktionsprozesses. Neben den Pixar-Filmen stehen mehr als 500 Skizzen, Zeichnungen, Modelle und Storyboards im Mittelpunkt der Ausstellung.

Für John Lasseter, Mitbegründer und kreativer Kopf der Firma, ist das Projekt auch Aufklärungsarbeit: „Die Leute denken immer, unsere Filme entstehen im Computer. Aber bevor wir den Rechner überhaupt anschalten, schaffen wir Hunderte von kleinen Meisterwerken.“ Lasseter, 48 Jahre, ehemaliger Kunststudent, dreifacher Oscar-Gewinner und vielfacher Millionär, steht in Anzug, Hawaiihemd und mit knallrotem Kopf in der Lobby des Museums und ist sichtbar begeistert, dass man seine Arbeit nicht immer nur an Börsenwert und Box-Office-Erfolg bewertet. „Wir machen auch Kunst. Wir orientieren uns in Technik und Stil an den klassischen Künsten.“ Für Lasseter geht an diesem Tag ein Traum in Erfüllung. „Ich hätte nie gedacht, dass wir mal unsere Namen in der MoMA lesen würden.“ Aber neben den Bildern und Skizzen steht es schwarz auf weiß. „Pablo Picasso, Spanien, 1905, Öl“ – „John Lasseter, USA, 1986, digital“.

Im Museum of Modern Arts hat die Ausstellung von Animationskunst Tradition. Bereits in den 40ern stellte man hier Arbeiten der Disney-Studios aus, Walt himself saß lange Zeit im Beirat, und vergangenes Jahr gab es eine Show über japanischen Anime-Filme. Die „Götter der 3-D-Computeranimation“ (L. A. Times) befinden sich also in bester Gesellschaft. Pixar wurde ursprünglich als Subfirma von George Lucas’ Industrial Light & Magic gegründet und später von Apple-Guru Steve Jobbs und der Belegschaft gekauft. LucasArts, Apple, Disney – bei diesen mythischen Namen des Computer-Entertainment-Komplexes musste Pixar ein Erfolg werden. Nächstes Jahr wird die Firma 20 Jahre alt. Zeit für einen Blick zurück.

Press Play. Die Ausstellung beginnt abrupt und konfus, mit einer Demonstration der Vielfalt. Die Skizzen und Zeichnungen wurden nicht nach den zugehörigen Filmwerken sortiert, hängen durchmischt und dadurch gleichsam isoliert an den Wänden. Als Kunstwerke, die für sich selbst stehen müssen und können. Zum Beispiel das wunderbare Großgemälde „Waterfall Mechanics“, eine Skizze für den Film „The Incredibles“, in der sich Dschungel, Wasserfall und Turbinen in Dreiecken, Trapezen und Farbblasen auflösen, vermischen und so ein wenig an die Naturbilder von Franz Marc erinnern. Bleistift, Edding, Pastellkreide, Tusche, Collagen oder Ton – daneben steht als gleichberechtigter Werkstoff der Begriff „digital“.

Vor allem bei neueren Pixar-Werken wie etwa „The Incredibles“ haben sich die Künstler bei der Pre-Production verschiedenster Techniken und Stile bedient. Teddy Newton hat zackige Collagen gebastelt, um die Farbpalette der Heldenklamotten zu simulieren. Lou Romano nimmt die kinetische Kraft des Films in seiner abstrakten Farbstudie vorweg, indem er Formen und Farben kollidieren lässt. Die Pixar-Produzentin Tia Kratter sagt über die Bedeutung der Vorstudien: „Die Zeichnungen und Modelle kommen zusammen und schaffen eine erste visuelle Beschreibung der Welt, die wir eigentlich noch gar nicht kennen.“

Ein paar Kinder, die zuvor noch mit leeren Gesichtern an den Beuys-Artefakten vorbeitrotteten, werden beim Anblick ihrer Comic-Helden lebendig und laut: „I like this, Mom. I know this!“ Für viele aber bleiben Animationsfilme im Museum eine seltsame Vorstellung. Digitale Animation ist berechnet und berechnend, kühl, künstlich und kommerziell – dieses Image kann Pixar durch die Ausstellung teilweise ablegen, und auch so erklärt sich die Begeisterung der Firma über den Ritterschlag der Hochkultur. Welchen Effekt aber hat die rasche Musealisierung auf die junge Kunst? „Wenn das Museum an Bedeutung gewinnt“, schrieb Jean Clair in den 80ern, „dann so, wie die Wüste wächst: Es rückt vor, wo das Leben weicht, und plündert, wie ein wohlmeinender Pirat, die zurückgebliebenen Wracks.“

Fast Forward. Es geht weiter hinab. Über der Rolltreppe schweben in einer Filmprojektion unzählige Türen wie Raumschiffe in die Unendlichkeit. Rote, blaue, gelbe und grüne Portale öffnen und schließen sich im Takt, locken den Besucher, der langsam nach unten fährt. Tausend Türen – und hinter jeder eine Welt: der Ozean, ein Ameisenbau oder eine verquere Monster-Industriegesellschaft. Pixar gräbt mit seinen Filmen ein Rabbit-Hole nach dem anderen, durch das der Zuschauer wie Alice in Parallelgesellschaften und Wunderländer springen kann. „Computeranimation ist die modernste Kunstform überhaupt“, sagt John Lasseter, „wir können durch unsere Computer in unsere eigenen Ideen hineinlaufen und uns umschauen.“

Der Zuschauer muss sich auf der Kinoleinwand normalerweise mit linearen 2-D-Welten begnügen, einen Eindruck von der Freiheit des digitalen Künstlers bekommt er im Höhepunkt der Ausstellung: der Artscape, einer Filminstallation aus dem Hause Pixar. Auf einer virtuellen Wand sind die Zeichnungen und Skizzen aufgehängt, man sieht die bekannten Charakterköpfe von Woody und Buzz, aber sie spielen hier eine Nebenrolle und werden von der Kamera nur gestreift, dann taucht der Blick ab in die Pastell- und Ölgemälde der Ausstellung, wandert umher, dreht sich im Kreis oder verweilt einfach in den Handlungsräumen der digitalen Blockbuster.

Eine wunderbare Reise. Denn Animationsfilme kennen bei der Erschaffung ihrer Fantasiewelten keine physikalischen Grenzen wie Schwerkraft, Schallmauer oder Reisebudget. Grenzen setzen nur die Imaginationskraft und die Rechenpower. Auf einer Tafel heißt es dann: „Nachdem der Computer ein perfektes Modell kreiert hat, fügt ein digitaler Maler oft Schmutz, Kratzer oder andere Anzeichen der Realität hinzu.“ Die Pixar-Filme nähern sich unserer Lebenswelt nicht nur mit Wirklichkeits-Simulacren, auch ihre Geschichten haben Kratzer, schmerzen und bluten ein bisschen: ein Fisch ohne Kurzzeitgedächtnis, Schutzgelderpressung unter Insekten, Energiegewinnung aus Angst. „Pixar erzählt nur vordergründig von Tieren und Spielzeug“, meint der MoMA-Kurator Steve Higgins, „eigentlich geht es um die menschliche Kondition. Sie wissen, dass das Leben schwierig und komplex ist.“

Trotz des kommerziellen Erfolgs steht Pixar so ein wenig in der frühen subversiven Tradition des Animationsfilms, wie sie Walter Benjamin in den 30ern beschrieben hatte. „Die Welt von Mickey Mouse ist voll von Wundern“, schrieb er, welche die technischen Wunder noch übertreffen und sich über diese lustig machen, sodass „eine erlösende Existenz möglich scheint“.

Weiter geht’s. Die Superheldenköpfe und Monsterstudien passen ins Museum. Unter der Vitrine sehen die Ton- und Kunststoffskelette aus wie Ausgrabungsstücke eines Naturkundeforschers. Die Pixar-Paläontologen haben unter anderem einen Anglerfisch („Nemo“) und den bösen Lurch Randall („Monsters Inc.“) ausgegraben. Die Büsten der Superhelden gleichen Statuenköpfen von Königen und Göttern der Vergangenheit. Und vielleicht stellen sich hier nicht nur Kinder die Frage, wer der Gegenwart eigentlich näher steht: der alte Bronzekopf von Hammurapi oder die fiktive Modeschöpferin Edna E. Mode, in deren Antlitz Genie und Wahnsinn von Lagerfeld, Coco und Vivienne Westwood vereint wurden? Erst der kleine Untertitel, „digitizable head“, macht deutlich, dass es sich hier nicht um ein selbstständiges Artefakt, ein Endprodukt, handelt, sondern um einen Arbeitsschritt. L’Art pour l’art ist was anderes.

Bei einigen liebevollen Unterwasserstudien mit Pastellkreide hat der Maler den dramaturgischen Nutzen der Kreation mit Kugelschreiber daneben geschrieben. „Vorhang aus Fischen, um etwas zu verbergen“ steht da, „zackige Korallenmuster für spannende Sequenzen“, und dann ist da noch eine Fischspirale, die sehr hübsch ist, ihr Zweck aber bleibt unklar. Der Künstler hat daneben gekritzelt: „I dunno“.