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Archiv-Artikel

Wenigstens ein Wunder auf der „Straße der Wunder“

ÜBERLEBENDE Altagrace Nazé arbeitete an ihrem Stand auf dem Markt, als die Erde bebte. Sie hatte Glück

PORT-AU-PRINCE taz | Es ist ein Wunder, dass Altagrace Nazé überlebt hat. Jetzt steht die 22-Jährige völlig verstört und wimmernd an der Straßenecke Rue du Centre und Rue Miracles, der „Straße der Wunder“. „Es ist ein Wunder“, sagt die Mutter eines dreijährigen Sohnes, während sie sich hilflos zwischen umgestürzten Marktständen, einem zurückgebliebenen Stöckelschuh aus Plastik und qualmenden Hausruinen umschaut. „Gott hat mich gerettet“, stammelt sie und berichtet von dem Moment, als sie dem Tod entrann.

Altagrace Nazé verkaufte wie jeden Tag ganz in der Nähe des bekannten Marché du Fer, des Zentralmarkts von Port-au-Prince, Billigklamotten. Reich wurde die Familie nicht, aber es genügte für den Lebensunterhalt. Nazé wohnte mit ihrem Mann und ihrem Kind in Fontamarra, einem bevölkerungsreichen Stadtviertel von Carrefour, der zweitgrößten Stadt Haitis. Auf der Straße vor ihrem Stand priesen junge Männer und Frauen mit „Dlo, dlo“-Rufen kleine Plastiktüten mit eingeschweißtem Wasser an, Frauen balancierten in großen Weidenkörben Korianderbüschel und Möhren. Junge Männer versuchten Kurzwaren, Kaugummi und kleine Baguettebrötchen zu verkaufen.

Dann bebte um 16.53 Uhr Ortszeit die Erde und verwandelte die Straße, auf der Altagrace Nazé ihren kleinen Stand hatte, in den Vorhof der Hölle. Menschen schrien in Panik auf und plötzlich spürte die junge Frau einen heftigen Schlag am Kopf. Taumelnd sprang sie mitten auf die Kreuzung. Mauern stürzten mit lautem Getöse in sich zusammen, ganze Straßenzeilen kollabierten durch die Erschütterung, die in einer Entfernung von rund 15 Kilometern von Port-au-Prince ausgelöst wurde. Wie durch ein Wunder entging sie dem Schicksal der Frauen, die neben ihr saßen: „Alle Marktfrauen rechts und links von mir sind erschlagen worden“, erzählt sie.

Wie betäubt rannte sie durch die Straße, kilometerweit bis zu ihrem Haus, in dem sie Kind und Ehemann wusste. Ihr Mann, der zum Zeitpunkt des Bebens im Hause war, wurde von den Steinmassen erschlagen, ihr dreijähriger Sohn hat überlebt.

Brauchbare Waren finden sich nicht mehr in dem einstigen Marktareal von Port-au-Prince, ein besonders lebendiger Teil der haitianischen Metropole, an dessen Häusern man leicht ablesen kann, dass sie schon besser Zeiten gesehen haben – vor vielen Jahrzehnten. In einer Ruine graben jetzt junge Männer mit einer Milchpulverdose in den Trümmern eines Eckhauses nach Verwertbarem. In einer Ecke schwelt ein Feuer und davor sieht man eine Leiche, die zu einer schwarzen Masse verbrannt ist, aus der ein Armknochen spitz gen Himmel zeigt.

Jetzt ist Altagrace Nazé wieder in der „Straße der Wunder“ und blickt auf das surreale Bild. Aber eigentlich wollte sie nach ihrem Besitz suchen in der Hoffnung, dass noch etwas von ihrem Stand und den dort in Panik zurückgelassenen Waren zu finden ist. „Ich habe gehofft, noch etwas retten zu können“, erzählt sie. Alles ist geklaut, von ihren Waren ist nichts mehr zu sehen. „Was soll ich jetzt machen?“, fragt sie verzweifelt und macht sich wieder auf dem Weg zu ihrem „petit mon“, ihrem Kleinkind, Richtung Carrefour. Zu Fuß sicher zwei Stunden entfernt.

HANS-ULRICH DILLMANN