: Lernen und Spielen bis vier Uhr
Während sich viele neue Ganztagsschulen noch schwer tun, gibt es längst gute Beispiele für funktionierendes Lernen bis nachmittags. In Einrichtungen wie der Mainzer Ludwig-Schwamb-Schule haben Jugendliche verschiedener Milieus mehr Zeit zum anderen Verstehen – und zum Zusammensein
AUS MAINZ SARAH MERSCH
Gewissenhaft räumen die Erstklässler ihre Tische ab. Ein Kind nach dem anderen stellt sein Geschirr ab – um möglichst schnell zum Spielen in den Hof zu rennen. Noch eine halbe Stunde ist Mittagspause. Für einen kurzen Moment ist Ruhe eingekehrt in der Mensa der Ludwig-Schwamb-Schule. Doch die währt nicht lange. Denn der Schultag ist für Schüler und Lehrer noch lange nicht vorbei in dieser Mainzer Grund- und Hauptschule.
Die rheinland-pfälzische Ludwig-Schwamb-Schule (LSS) ist schon seit 1971, was ein Viertel der 40.000 deutschen Schulen erst werden will: Ganztagsschule. Die Schule war eine der ersten Versuchsschulen in Rheinland-Pfalz. Für die 260 Hauptschüler ist der Ganztagsunterricht verpflichtend, für die Grundschüler nicht. Kinder und Jugendliche drücken von 8 bis 16 Uhr die Schulbank, das heißt: genau das tun sie nicht. Denn Ganztagsschule heißt nicht, den ganzen Tag zu pauken.
Nach dem Mittagessen geht es für die rund 80 Grundschüler im Ganztagsangebot zum Spielen auf den weitläufigen Pausenhof. Zwischen Bäumen und Sträuchern ist Platz zum Schaukeln, Wippen und Verstecken. Josua und Dominik sitzen auf einem hölzernen Klettergerüst. „Wann ist die Pause zu Ende?“ Juliane Flessa schaut auf die Uhr. „Jetzt“, sagt die Lehrerin. Sie sammelt ihre Viertklässler. Es werden Hausaufgaben erledigt – damit sich die Kinder später zu Hause nicht noch einmal hinsetzen müssen.
Für die Grundschüler stehen Mathe und die Verbesserung eines Diktats auf dem Programm. Tracy sitzt ein bisschen ratlos vor ihrem Heft. Angelique weiß, wie man die Aufgabe lösen kann, und geht zu ihrer Mitschülerin. Gemeinsam beugen sie sich übers Mathebuch. Zwei Minuten später hat auch Tracy verstanden, wie es geht. Inzwischen kommen Josua, Dominik und Laura zum Pult, um ihrer Lehrerin die fertigen Hausaufgaben zu zeigen – aus einem anderen Fach. „Traumberufe“ war das Thema des Diktats, wo es um einen König ging. Auch im wirklichen Leben haben die Schüler hohe Ziele: Richterin oder Staatsanwältin oder vielleicht Journalistin, sagt Laura, „weil ich gerne schreibe“.
Die Schwamb-Schule liegt in einem Gebiet, das gerne als sozialer Brennpunkt bezeichnet wird – hoher Ausländeranteil, ein eher bildungsfernes Milieu, immer mehr Eltern, die von Hartz IV leben. Auf dem Schulhof merkt man davon zunächst wenig. Schülergrüppchen stehen rum, unterhalten sich oder spielen Ball. Keine Aggressionen, keine Schlägereien, keine Polizei vor der Tür. „Genauso wie nebenan auch“, sagt Oliver Burg aus der Schulleitung.
Nebenan, da steht ein Gymnasium. Wahrscheinlich werden nur wenige Grundschüler der LSS später dorthin gehen. „Aber ich will, dass möglichst viele auf die Realschule oder die Integrierte Gesamtschule gehen. Das schaffen sie“, davon ist Juliane Flessa überzeugt. In ihrer Multimedia-AG, die für eine CD über die DDR einen rheinland-pfälzischen Förderpreis bekam, beschäftigen sich die Schüler dieses Jahr mit Fußball, passend zu dem örtlichen Fußballbundesligisten Mainz 05.
Das große Idol ist der 05er Stürmer Michael Thurk. „Der Kleinbürger aus Frankfurt, der sich hochgearbeitet hat – das ist genau das, was ich für meine Schüler will“, meint Lehrerin Flessa. Ihre Schützlinge auch. Sie versuchen mit Michael Thurk und dem Mainzer Kulttrainer Jürgen Klopp ein Interview zu machen. Der kleine Verein, der es in die erste Liga geschafft hat, passt gut zu ihrer Schule.
14.45 Uhr, der letzte Nachmittagsblock bricht an. Sport wird genauso angeboten wie Tierprojekte, Märchenkurse oder erste Hilfe. Aus einem Zimmer dringen Flötentöne. 15 Kinder sitzen im Kreis und 15 Kinderfüße klopfen im Takt auf den Boden. Stolz präsentieren sie die zwei Stücke, die sie in den letzten Wochen gelernt haben. Die bestehen erst aus zwei Tönen, aber viele Kinder haben die Flöte zum ersten Mal in der Hand.
„Sollen wir heute schon einen dritten Ton dazulernen?“, fragt die Lehrerin. „Au ja, unbedingt!“ Axel reißt vor Freude die Arme nach oben. „So konzentriert und begeistert habe ich ihn im normalen Unterricht selten erlebt“, berichtet seine Lehrerin später. Nachmittags lernen die Lehrer ihre Schüler von einer anderen Seite kennen – und umgekehrt genauso. „Ich fühle mich am Nachmittag weniger wie die Frau Lehrerin, ich fühle mich mehr wie Juliane Flessa.“ Da trauen sich auch die Schüler viel eher, mit Problemen zu kommen. Oder um ein bisschen zu reden.
Während Axel Flöte spielen lernt, geht Tracy zu Berchon Dias von der Trommel-AG. „Der ist ein bisschen streng, aber der Kurs macht Spaß.“ Dias arbeitet eigentlich in Mainz am Peter-Cornelius-Konservatorium. Jeden Mittwochnachmittag steht der charismatische Perkussionist im Musiksaal der Schule, vor ihm 15 Dritt- und Viertklässler. Nach kurzer Zeit sitzt der neue Rhythmus, den sie bald an den Trommeln spielen werden. Die Schüler der LSS sind nicht unbedingt diejenigen, die ihre Eltern auf Musikschulen schicken würden. Umso wichtiger ist die Zusammenarbeit mit Vereinen und anderen Organisationen.
Die Verzahnung von Grund- und Hauptschule ist manchmal auch kompliziert. „Man muss koordinieren, welche Klassenstufen wann essen gehen, wer Aufsicht führt, welche Räume belegt sind und so weiter.“ Nikolaus Edinger weiß, wovon er spricht. Der Ganztagsschulkoordinator steht in seinem Büro vor einer riesigen Wandtafel. Auf der befinden sich hunderte kleine bunte Magnete mit Namen und Symbolen. Dem geübten Auge verraten sie alles über Stundenpläne und Raumbelegung, welches Fach eine bestimmte Klasse gerade hat und wer im Computerraum Aufsicht führt. Edinger ist seit 24 Jahren an der Schule und ein großer Fan der Ganztagsschule. „Wenn man nicht hinter der Idee steht, wird man hier nicht glücklich“, bestätigt Burg.
Doch bei aller Begeisterung von Schülern und Lehrern gibt es auch kritische Töne. „Um auf die Schüler individuell eingehen zu können, bräuchte man noch kleinere Gruppen und mehr Räume“, fordert Flessa. Ein Teil des 60er-Jahre-Baus, in dem sich die Schule befindet, wurde bereits renoviert. Doch in einer Ecke des Geländes modert eine Baracke vor sich hin, die so baufällig ist, dass sie nicht mehr genutzt werden kann.
Oliver Burg ist in der privilegierten Situation, die gebundene und offene Ganztagsschule direkt vergleichen zu können. Welche Form die bessere sei, darauf möchte er sich nicht festlegen. „Für die Grundschule ist sicher die Angebotsform das Richtige, denn nicht alle Kinder in diesem Alter halten bis nachmittags um vier Uhr durch.“ Aber für seine Hauptschule hält er die verpflichtende Form für ideal – weil sie Verlässlichkeit in den bildungsfernen Alltag der meisten seiner Schüler bringt.
Unabhängig von der Form sei der stärkere Zusammenhalt innerhalb der Schule das Wichtigste, bilanziert Juliane Flessa. „Ich gehe nicht mehr in die Schule, ich gehe in meine Schule.“