DIE GESELLSCHAFTSKRITIK
: Bruder Winter

WAS SAGT UNS DAS? So sehnsüchtig hat man ihn erwartet – und dann ist der Frühling doch eine Enttäuschung. Aber hey: Erfroren sind ganz Andere. Und noch ist Melancholie nicht verboten

Mit traurigen Gedanken und den falschen Schuhen steht man dann in Schneeresten

Was an der These vom trübsten und kältesten Winter aller Zeiten wissenschaftlich, was fehlenden Aufzeichnungen geschuldet, was schlicht Geschwätz gewesen sein mag – das soll uns hier nicht mehr beschäftigen.

Denn abgesehen davon, dass man keine interessanten Gespräche mehr führen konnte und die Kinder zuletzt ein wenig viel vor den Bildschirmen abhingen: Es sind ja nun nicht direkt wir gewesen, die unter Abdeckplanen und in un- oder untergeheizten Wohnung erfroren sind – allein in Großbritannien, weiß die Daily Mail, kosteten „cold-related illnesses“ 2012/2013 30.000 Menschen das Leben.

Da es sich bei den Toten vor allem um alte und arme Menschen handelt und da die Ursachen für dieses Massensterben nicht im romantischen Feld der Klimakatastrophe, sondern im sozialpolitisch-öden liegen (wir gedenken hier kurz Margaret Thatchers und ihrer konservativen Revolution), ist das auch schnell vergessen.

Denn jetzt sprießt es ja. Endlich. So wie das Gerede über den langen Winter ein Mittelklassephänomen war, so erleben wir nun wieder den Frühling, als großes Schaulaufen der Powerradler und Halbnacktjogger, der Trommler und Speedball-Spieler. Angenehm an dieser ewigen Wiederkehr des Gleichen ist lediglich, dass heuer das passive Genießen noch eine Zeitlang im Vordergrund zu stehen scheint – so ergaben es jedenfalls erste Feldstudien in Berlin am Sonntag. Und doch stellte sich, kaum war man in die Schlange am Eingang zum nächsten Park eingereiht, so etwas wie Melancholie ein. Hatte man das Dunkel und die Kälte denn nun irgendwie genutzt, zur spirituellen Einkehr meinetwegen? War man wirklich bereit für das, was sich zwischen Anfang April und dem Beginn der Schulferien Mitte Juni an Aktivitäten aller Art geballt abspielen würde: Fußballspiele und Kindergeburtstage, Relaunche und Kongresse – und nicht zuletzt die Zwielichtnachmittage mit der Liebsten, hinter Vorhängen, die eine warme Brise sanft hin und her wiegt?

Mit solchen Gedanken und den falschen Schuhen steht man dann in Schneeresten, bekommt im überlaufenen Kioskcafé keinen Stuhl mehr ab und spürt schließlich auf der matschigen Wiese sitzend, dass es doch grundkalte Lüfte sind, die sich hier fadenscheinig erwärmen. Wenn dann am nächsten Morgen wieder die Nase läuft und der Hals kratzt, weiß man wenigstens: Der nächste Winter kommt bestimmt. AMBROS WAIBEL