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Archiv-Artikel

Lügen und andere Verbrechen

Kurz bevor Léon Blum in den 30er-Jahren Premier der Volksfront-Regierung in Paris wurde, hat er ein bewegendes Buch über die Affäre Dreyfus geschrieben. Aktuell ist es heute noch. Denn Blum zeigt, wie die Zivilgesellschaft den Militärapparat zur Raison bringen kann

Die Affäre beginnt in einem Papierkorb der Deutschen Botschaft in Paris. Eine Putzfrau findet dort im Herbst 1894 einen Brief, der den Verrat von französischen Militärgeheimnissen ankündigt. Nur sechs Wochen später wird der jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus als Spion verdächtigt und vor ein Militärtribunal gestellt. Einziger Beweis gegen ihn: der Brief. Zwei Sachverständige behaupten, dass Dreyfus ihn geschrieben habe – zwei weitere Experten bestreiten dies.

In dieser Situation sagt ein Major des Generalstabes namens Henry vor dem Gericht aus, dass die Spionageabwehr Dreyfus schon seit geraumer Zeit als Spion verdächtige. Als das Militär dem Gericht noch ein paar gefälschte Beweise übergibt, ist sein Ende beschlossene Sache: Er wird öffentlich im Hof der École Militaire degradiert und danach lebenslang auf die Teufelsinseln verbannt.

Schon kurz danach wird offenkundig: Dreyfus ist unschuldig. Den Brief hat ein Major Esterhazy von der Spionage-Abwehr verfasst – und der Generalstab weiß dies spätestens seit März 1896. Aus dem Fall Dreyfus wie die Affäre, l’affaire, wie sie in Frankreich nun schlicht heißt. Die Nation spaltet sich in Gegner und Anhänger von Dreyfus, und am 13. Januar 1898 klagt Émile Zola in der Zeitung L’Aurore das Militär in seinem berühmten „J’accuse“-Artikel an, gelogen, gefälscht und Recht verletzt zu haben: „Ich habe nur eine Leidenschaft, die der Aufklärung im Namen der Menschheit, die so viel gelitten hat […] Mein glühender Protest ist nur der Schrei meiner Seele. Wage man es, mich vor das Assisengericht zu bringen, und möge die Erörterung in alles Öffentlichkeit stattfinden. Ich warte“.

Er muss nicht lange warten. Am 7. Februar wird Zola angeklagt und für seine Attacken zu einem Jahr Haft verurteilt. Doch er flieht nach England – ebenso wie Major Esterhazy, der dort seine Schuld zugibt. Major Henry gesteht, Beweise gefälscht zu haben, und nimmt sich das Leben. Eine Regierung stürzt, drei Kriegsminister treten nacheinander ab und einige Generale verschwinden recht frühzeitig in Pension.

Dieser Umsturz ist natürlich nicht nur ein Verdienst Émile Zolas. Viele bekannte Intellektuelle gehören zu den Dreyfussards: von Bernard Lazare und Jean Jaurés über Lucien Herr bis zu Léon Blum. Von Blum ist nun auf Deutsch das bemerkenswerte Buch „Beschwörung der Schatten“ erschienen, dass im Original 1935 veröffentlicht wurde. Er war zur Zeit der Dreyfus-Affäre ein junger Jurist und Literat, der durch diesen Fall politisiert wurde. 1902 gehörte er zu den Gründern der Sozialistischen Partei, kurz nach dem Ersten Weltkrieg wurde er ins Parlament gewählt und 1936 schließlich Premier der Volksfront-Regierung.

Ein Jahr zuvor, im Schatten des nationalsozialistischen Antisemitismus, erinnerte er an die bedeutendste Krise des Landes seit der Französischen Revolution. Denn: „Die jungen Leute heute, selbst die Erwachsenen, sind wie Dreyfus selbst bei der Rückkehr von der Teufelsinsel [wo er inhaftiert war, die Red.] – sie kennen die Affäre nicht, und vor allem begreifen sie sie nicht.“ Das wollte er mit seinem Buch ändern.

Daher lässt er nicht nur die ganze Affäre noch einmal Revue passieren. Er führt auch vor, wie sich der intellektuelle Widerstand formierte und letztlich gegen den mächtigen Militärapparat, das Kartell der Nationalisten, aber auch gegen den verbreiteten Antisemitismus durchsetzte. Mit Verve appelliert Blum so an die demokratischen und republikanischen Tugenden seiner Zeitgenossen in den Dreißigerjahren. Seine politische Botschaft hat er zudem ebenso elegant wie eloquent formuliert.

Dass man Blums Buch auch auf Deutsch mit großem Vergnügen und Gewinn lesen kann, ist Joachim Kalka zu verdanken, der den Essay hervorragend übersetzt, eingeleitet und mit unverzichtbaren Anmerkungen versehen hat, die alle wichtigen Protagonisten und Bezüge erläutern.

Léon Blums Analyse der Affäre Dreyfus ist nach wie vor brisant: Wenn ein demokratisches Land so tief gesunken ist, dass es ein Verfahren derart manipuliert – dann es kann nur eine starke Zivilgesellschaft retten. Nicht zufällig denkt man heute dabei an die Politik der Regierung Bush, die CIA-Flüge, Folter in Guantánamo oder Colin Powells Auftritt vor der UNO. Frankreich hat aus der Dreyfus-Krise gelernt, den jüdischen Hauptmann 1906 rehabilitiert und die wahren Schuldigen zur Rechenschaft gezogen. Bei den USA darf man darauf derzeit nicht hoffen. DANIEL HAUFLER

Léon Blum: „Beschwörung der Schatten. Die Affäre Dreyfus“. Aus dem Französischen, mit einer Einleitung und mit Anmerkungen versehen von Joachim Kalka. Berenberg Verlag, Berlin 2005, 118 Seiten, 19 Euro