: Ein durchweg optimistischer Ort
DEUTSCHE TEILUNG Rund 1,35 Millionen Menschen durchliefen das Notaufnahmelager in Marienfelde. Das funktionierte „wie eine gut geölte Maschine“, erinnert sich der Schriftsteller Chaim Noll
VON CHAIM NOLL
Immer wieder, in all den Jahren, ist mir beim Suchen nach Dokumenten ein gelbes Blatt in die Hände gefallen. Ausgefüllt von einer elektrischen Schreibmaschine, ein Durchschlag. Format A4, überschrieben „Aufnahmeschein“. Ausgestellt am 8. Mai 1984 vom „Leiter des Bundesnotaufnahmeverfahrens“. Auf der Rückseite vom gleichen Amt gestempelt, ein runder Abdruck, in der Mitte der deutsche Adler. Darüber das Datum. Ein Tag vor fast dreißig Jahren.
Der „Aufnahmeschein“ enthielt unsere Personalien, zuerst meine, dann „Angaben zum Ehegatten und zu den Kindern unter 18 Jahren, die gleichzeitig mit in das Bundesgebiet gekommen sind“. Dazu die Geburtsdaten, die Staatsangehörigkeit, die Religion. Das Datum unseres „Eintreffens im Bundesgebiet“. Unser letzter Wohnsitz im Osten der Stadt. Dann die Rubrik: „Genehmigung zum Verlassen der DDR wurde erteilt“, anzukreuzen „ja“ oder „nein“, mit anderen Worten: ob wir „legal ausgereist“ oder „abgehauen“ waren. Ferner der „beabsichtigte Wohnsitz im Bundesgebiet, einschließlich Land Berlin“. Die „gegenwärtige Anschrift“, falls man vom ersten Tag an eine Wohnung hatte. Zum Schluss: „Die einmalige Unterstützung der Bundesregierung (Begrüßungsgabe) wurde ausgezahlt“. 150 Deutsche Mark pro Erwachsenen und 75 Mark „je minderjährigem Berechtigten“.
Wir waren zu viert, als wir im „Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde“ Zuflucht suchten, zwei Erwachsene, zwei Kinder, folglich erhielten wir 450 Deutsche Mark bar auf die Hand. Ich erinnere mich, dass uns dieses Geschenk überraschte. Es war nicht üppig, aber eine sympathische Geste. Und wenn man nach monatelangem, oft Jahre dauernden Warten auf die Genehmigung eines „Antrags auf Ausreise aus der DDR“ oder nach abenteuerlicher, oft lebensgefährlicher Flucht im Westen angekommen war, zählte jede Geste. Wir Ankömmlinge waren wund und misstrauisch. Hinter uns lagen behördliche Schikanen, die Demontage unserer früheren Existenz, Verlust der Arbeitsstelle, Ausschluss aus allen sozialen Zusammenhängen, Demütigungen jeder Art, der Bruch mit Freunden und Verwandten, in nicht wenigen Fällen Verrat und Haft.
Das Lager Marienfelde war der erste Ort im Westen, den wir aufsuchen mussten. Es lag irgendwo weit draußen, im Süden Berlins. Wir gehörten zu den Glücklichen, denen West-Berliner Verwandte und Freunde bereits eine Wohnung besorgt hatten, in die wir sofort einziehen konnten. Die Wohnung lag im Norden der Halbstadt, Wedding, nahe Bahnhof Gesundbrunnen, und von dort nach Marienfelde im südlichsten Süden war es eine über einstündige Fahrt mit Bahnen und Bussen, wir fuhren diese Strecken zwei Wochen lang lang täglich zweimal, bis wir den berühmten „Laufzettel“ (insgesamt 13 Stationen) abgearbeitet, uns in allen Ämtern vorgestellt, alle Fragebögen ausgefüllt und somit die „Notaufnahme“ absolviert hatten.
Diese ersten Fahrten durch West-Berlin, als Neuankömmling, sind mir bis heute unvergesslich. Als kleiner Junge war ich oft im Westen gewesen, die Hälfte der Familie lebte dort. Dann über zwanzig Jahre nicht mehr. Ich bin gebürtiger Berliner, Opfer der Teilung wie Millionen, ein Kind, das im Schatten der Mauer aufwuchs. Diese Stadt, ihre Tragödie und Wiederauferstehung haben mich geprägt. Ich fühle mich noch heute, fern von Berlin, als Berliner. Die Berliner dieser Jahre, aufgewachsen in der zerbombten, durch die Mauer verstümmelten Stadt, waren unverwüstliche Optimisten. West-Berlin, Insel und Festung, hatte eine Ausstrahlung von Heiterkeit und Überlebenswillen. Auch das Lager Marienfelde war ein durchweg optimistischer Ort.
Gegründet im April 1953 hatte das „Notaufnahmelager“ den Charme einer großen Kaserne. Die Häuser in Quaderform, in hellen, langweiligen Farben verputzt, Büros, Wartezimmer mit harten Stühlen, gebohnerte Korridore, in denen man Schlange stand. Es gab Kantinen und Ruheräume für Menschen, die in Ohnmacht fielen. Am ersten Tag dauerten die bürokratischen Prozeduren über acht Stunden. Die Kinder waren erschöpft, als wir abends in unsere neue Wohnung fuhren. Sie wurden nach wenigen Tagen eingeschult und mussten nicht mehr „nach Marienfelde“. Überhaupt gab es keine unnötigen Verzögerungen, Marienfelde arbeitete wie eine gut geölte Maschine, man spürte sofort, dass die Mitarbeiter Erfahrung im Umgang mit Flüchtlingen und ihren Problemen hatten, mit ihren Ängsten, Sorgen, ihrer oft schwierigen psychischen Verfassung.
Seit Beginn der deutschen Teilung, besiegelt durch die Gründung zweier deutscher Staaten im Jahre 1949, waren Hunderttausende Menschen aus dem östlichen Staat in den Westen geflohen. Rund 1,3 Millionen von ihnen passierten das Lager Marienfelde, zeitweilig sollen es bis zu 1.500 Menschen pro Tag gewesen sein. Die Mitarbeiter dieser Einrichtung hielten einen normalen Arbeitsalltag aufrecht, einen etwas trockenen, bürokratisch wirkenden Alltag, der eine gewisse Ernüchterung ausstrahlte. Auf Menschen, die kurz zuvor aus allen vertrauten Zusammenhängen gerissen wurden, nicht selten schwere Schockerlebnisse hinter sich hatten, Lebensgefahr oder Gefängnishaft, ging davon eine seltsam beruhigende Wirkung aus.
Als wir ankamen, war das Lager überfüllt wie so oft in seiner Geschichte, nachdem eben eine sogenannte Ausreisewelle über den Westen der Stadt hereingebrochen war. Auf Jahre relativer Ruhe nach dem Mauerbau folgte ein neuer Ansturm, nachdem die DDR im Jahre 1975 die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) signiert hatte, worin sich die Unterzeichner verpflichteten, elementare Menschenrechte wie den freien Wechsel des Wohnorts zu gewähren. Nach Statistiken der „Zentralen Koordinierungsgruppe“ des Ministeriums für Staatssicherheit haben in den folgenden zwölf Jahren, zwischen 1977 und dem Ende der DDR, über 176.000 Menschen den Osten Deutschlands mit Hilfe eines „Ausreiseantrags“ verlassen. 35.000 wurden aus der Haft freigekauft und nochmals Tausenden gelang die gefährliche Flucht über Drittländer oder die innerdeutsche Grenze. In manchem Jahr, etwa 1984, ging die Zahl der Ankömmlinge in die Zehntausende.
Die „Notaufnahmelager“ dienten der provisorischen Unterbringung derer, die noch keine Wohnung hatten, der Einbürgerung und Untersuchung. Es gab ärztliche Checks, Fragebögen, Prüfungsgespräche, Einweisungen und Belehrungen, ferner Befragungen durch Beamte der alliierten Schutzmächte. Die Befragungen in Marienfelde konnten lange dauern, die amerikanischen, englischen oder französischen Gesprächspartner waren hartnäckig, aber immer höflich. Sie wollten alles wissen, was es über den Staat auf der anderen Seite der Mauer zu wissen gab, dabei zeigten ihre Fragen, dass sie gut im Bilde waren und es wenig Sinn hatte, sie zu täuschen. Uns befragten sie gezielt zum DDR-Kulturbetrieb, der damals in Auflösung begriffen war, weil viele Künstler, vor allem jüngere, gegen den Staat opponierten oder in den Westen gingen. Meine Frau, daran erinnere ich mich, führte mit dem französischen Offizier eine längere Konversation über Malerei. Man achtete im Gespräch darauf, nichts preiszugeben, was Freunde und Verwandte auf der anderen Seite der Mauer gefährden würde. Rücksichten auf den Staat, den wir hinter uns gelassen hatten und den wir ohnehin für kurzlebig hielten, nahm kaum jemand. Die westdeutschen Geheimdienste waren offiziell in Marienfelde nicht zugelassen, sie mussten sich überhaupt in Berlin bedeckt halten.
Die alliierten Beamten warnten uns vor Stasi-Spitzeln in West-Berlin. Wir sollten bald lernen, wie recht sie hatten. West-Berlin war ein beliebtes „Operationsgebiet“, auch das Lager Marienfelde. Die Stadt, wie sie damals war, verführte zu einer gewissen Nonchalance. Heute fällt es schwer, das West-Berlin dieser Jahre zu beschreiben. Von der belagerten, stark behinderten Stadt ging eine Aura der Leichtigkeit aus, die viele faszinierte, nicht nur Menschen aus dem Osten, auch viele junge Westdeutsche und Ausländer. Berlin (West) war multikulturell, lange bevor dieses Schlagwort aufkam. Marienfelde: Das sind zwei Wochen im Mai, fast dreißig Jahre her. Das Wetter sonnig. Straßenbilder in den reichen West-Berliner Vororten, Zehlendorf, Steglitz, durch die wir fuhren, von einer fast traumhaften Sorglosigkeit. Überhaupt ein Gefühl ungeheurer Erleichterung. Ich glaube, ich habe mich nie wieder im Leben so erleichtert gefühlt.
Chaim Noll studierte Kunst und Kunstgeschichte in Ostberlin. Er verweigerte den Wehrdienst und verließ die DDR. Sein autobiografisch gefärbter Roman „Der goldene Löffel“ über die zerfallende DDR wurde im September 1989 veröffentlicht. Zuletzt ist beim Verbrecher Verlag „Kolja“ erschienen.