: Weg, so weit wie möglich
FLUCHT Viele Menschen versuchen die Hauptstadt Port-au-Prince zu verlassen. Die USA rüsten Guantánamo für Flüchtlinge aus
AUS PORT-AU-PRINCE HANS-ULRICH DILLMANN
Die Busbahnhöfe sind überfüllt. Die Menschen dränglen sich, um einen der wenigen Plätze in den Tap-Tap-Bussen zu ergattern, oder versuchen, einen Platz auf den Lkws zu finden, die für den öffentlichen Personenverkehr benutzt werden.
„Was soll ich hier noch?“, fragt ein Mann, der, einen Koffer auf dem Kopf jonglierend, in Richtung des Busbahnhofs in Tabarre eilt, von wo aus Busse in Richtung der dominikanischen Grenze abfahren. „Das Essen wird weniger, und es gibt mehr Leute, die nach Essen oder Verwertbarem suchen.“
Obst und Gemüse gibt es dennoch ausreichend. In manchen Straßenzeilen rund um das Zentrum von Petionville, einem Vorort der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince, bietet sich dem Beobachter wie in alten Tagen das Bild von Frauen, die ihre Waren feilbieten. Nur klingt es nicht so laut wie sonst. Mangos, Passionsfrüchte, Apfelsinen, Pampelmusen, Jamswurzeln, Kürbisse, Koch- und Obstbananen. Das landwirtschaftliche Hinterland versorgt die haitianischen Hauptstadt nach wie vor.
Aber alles wird teurer. Für einen Beutel Wasser, ungefähr von der Menge eines Wasserglases, das vor neun Tagen noch einen Gourd (umgerechnet 2 Cent) kostete, wird nun das Drei- bis Vierfache verlangt. Nach all den Verheerungen, die das Beben angerichtet hat, könnten nun auch die Folgen des Bebens die Menschen zur Flucht bewegen – kein Wunder, dass Kommentatoren in haitianischen Rundfunksendern mutmaßen, dass die Aussicht auf eine Flüchtlingswelle über das Meer Richtung USA die US-Regierung dazu veranlasst haben könnte, das Regiment in Haiti zu übernehmen.
Denn schon immer hat die Bevölkerung es in Krisensituationen vorgezogen, auszuwandern. Die Grenze zur ungleich wohlhabenderen Dominikanischen Republik ist nah, gewöhnlich dauert die Fahrt mit dem Bus von Port-au-Prince bis zum Grenzort Malpasse eine Stunde. Und dann gibt es natürlich den Weg übers Meer: 1.200 Kilometer bis an die Küste Floridas.
Rund um die Stadt Gonaïves, rund 180 Kilometer nördlich der haitianischen Hauptstadt, leben ganze Dörfer davon, einfache Barkassen zu bauen, die für den Transport von illegalen Migranten Richtung USA genutzt werden können. Rund zwanzig lange Barkassen liegen am Hafen, nur wenige Boote sind in der Lage, eine Überfahrt unbeschadet zu überstehen.
Die Menschen kauern während der tagelangen Fahrt auf dem Boden des Bootes. Es mangelt an Wasser und Lebensmittel. „Es war die Hölle“, erzählte Antoine Joseph, ein 35 Jahre alter Arbeitsloser, der vor einem Jahr bei seinem Versuch, in die USA überzusetzen, mit zwei Dutzend anderen Schiffbruch erlitt. „Aber ich würde es wieder versuchen“, sagt er. Immer wieder stranden Boote auf ihrer Irrfahrt auf Jamaika, Kuba oder den Bahamas, wo die Insassen in Gefängnissen landen, ehe sie in ihre Heimat abgeschoben werden.
Eines der wichtigsten Zentren des illegalen Schiffsbaus in Haiti dürfte jedoch für lange Zeit nicht mehr als Schiffswerft zur Verfügung stehen: das Dorf Ça Ira, rund 40 Kilometer südwestlich von Port-au-Prince und damit in unmittelbarer Nähe des Epizentrums des Bebens gelegen. Die nächstgelegene Kleinstadt Légâne ist fast völlig zerstört, ähnliche dürfte es in Ça Ira sein, wohin noch immer keine Hilfskräfte gelangt sind.
Das gelobte Nachbarland
Einfache als die Überfahrt in die USA ist die illegale Einwanderung in die Dominikanische Republik. Zwar wird der Grenzübergang inzwischen von einer in den USA ausgebildeten Sondereinheit überwacht, aber nur wenige hundert Meter weiter in der Hügellandschaft, die die beiden Länder auf der zweitgrößten Karibikinsel Hispaniola auf rund 370 Kilometern trennt, kann der Beobachter auch mit bloßen Augen die illegalen Grenzgänger beobachten, die die überhaupt nicht gesicherte Trennungslinie überwinden.
Rund 80 Euro kostete noch vor einer Woche der illegale Transport mit einem Kleinbus von Haiti bis in die dominikanische Hauptstadt, inklusive Bestechung der Grenzpolizisten und der Polizisten an den Kontrollpunkten, die im Süden des Landes, im Abwehrkampf gegen illegale Einwanderer, überall errichtet sind. In der Dominikanischen Republik leben rund eine halbe Million illegale Einwanderer, ohne die Arbeitskraft der „Haitianos“ würde in Santo Domingo kein Hotel gebaut, könnten die Menschen am Straßenrand keinen frisch gepressten Orangensaft trinken und würde die Reis- und Gemüseernte brachliegen.
Guantánamo ist bereit
Die USA, wo bereits jetzt schätzungsweise 1 Million Haitianer leben (siehe Text unten), aber rechnen offenbar mit einer Massenflucht über die Karibik. Wie Konteradmiral Thomas Copeman am Mittwoch sagte, bereitet man den Militärstützpunkt Guantánamo auf Kuba für einen möglichen Ansturm haitianischer Flüchtlinge vor.
Auf dem Gelände wurden bereits etwa hundert Zelte für jeweils zehn Personen errichtet, Sollten Überlebende der Erdbebenkatastrophe in Haiti tatsächlich massenweise ihr Land verlassen, stünden mehr als tausend weitere Zelte zur Verfügung.
Auch Feldbetten und andere Dinge seien für den Notfall gelagert, sagte Copeman. Der Admiral ist Befehlshaber der Sondereinheit, die für das umstrittene US-Gefangenenlager für Terrorverdächtige auf dem Marinestützpunkt zuständig ist. Die Flüchtlinge aus Haiti würden allerdings getrennt von den noch rund 200 Lagerinsassen untergebracht werden. Das Gefangenenlager und das Auffanglager für Flüchtlinge liegen etwa vier Kilometer auseinander. Anfang der Neunzigerjahre waren bereits tausende Bootsflüchtlinge aus Haiti vorübergehend auf dem Stützpunkt Guantánamo untergebracht worden. (mit apn)