: Auch du bist gemeint
DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER
Dieses Jahr sah mindestens drei außerordentliche Deutsche. Kardinal Ratzinger wurde Papst, Angela Merkel wurde Bundeskanzlerin, und Friedrich Schiller ist nun schon zweihundert Jahre tot. Es sind zugleich drei konkurrierende Jahresendsprecher. Natürlich wäre es noch großartiger, Angela Merkel wäre Päpstin geworden, Schiller wieder lebendig und …
Der Papst ist ohnehin viel älter als Schiller. Papa Ratzi kommt noch, eben haben wir es wieder gesehen, direkt von der Geburt Christi. Als Schiller lebte, war Europa hingegen längst dabei, dieses Datum nicht mehr ganz so wichtig zu nehmen. Die europäische Menschheit kroch gerade heraus aus ihren religiösen Herkunftshöhlen, und Schiller kroch als brustkranker Fackelträger der Freiheit voran. Inzwischen kriechen viele schon wieder zurück. Was ist passiert?
In drei Tagen werden wir wieder überall die „Ode an die Freude“ hören, den heidnisch-schillerschen Gegenchoral zum Krippenkonzert. Und danach kommt Angela. So ein Jahresende ist eine hervorragende Gelegenheit zum vergleichenden Hören.
Der Papst sah gut aus bei seiner ersten Weihnachts-Mitternachtsmesse. Ein schönes Nach-Johannes-Gesicht. Ein Gesicht von so unangestrengter Tiefe. Ein irgendwie schon selbstverständliches Gesicht. Es war viel die Rede von Sünde und vom Gericht, das über uns alle kommen wird. Von lauter Dingen also, von denen es schwer fällt zu glauben, dass unsere Nächsten und Fernsten noch daran glauben. Schließlich ist die Existenzform dieser Welt der praktizierte Unglaube.
Es ist schon erstaunlich, dass aus der Überraschung der Jünger nach dem Tode ihres Messias doch noch ein solches Welt-exclusiv-Fest wie Weihnachten werden konnte. Es ließ sich gut darüber nachdenken während der Mitternachtsmesse aus Rom. Niemals war der Glaube an Christi Geburt gefährdeter als in dem Augenblick, als er starb. Denn keiner hatte damit gerechnet, dass Jesus wirklich stirbt, weil ein Messias, der sich kreuzigen lässt, kein Messias ist.
Durch Kreuzigung brachte man entlaufene Sklaven zu Tode. Vorerst flohen die enttäuschten Anhänger des merkwürdigen Messias aus der Stadt, denn sie konnten leicht die nächsten sein am Kreuz. Aber dann kehrten sie zurück, ins Herz der Gefahr. Und keiner verstand das. Die ersten Christen glaubten nämlich ganz anders als die letzten da am Wochenende in Rom. Sie warteten auf das Reich Gottes, das in jedem Augenblick kommen musste. So hatte Jesus das gesagt. Wenn also an diesem unmöglichen Messias doch etwas dran sein sollte, dann würde er augenblicklich zurückkehren und das Reich Gottes gleich mitbringen.
Wo aber würde er den Erdboden betreten? Natürlich genau dort, wo er ihn soeben verlassen hatte. Insofern sind heutige Christen solche, die noch immer wie die allerersten auf die Wiederkunft Jesu warten, nur dass sie inzwischen das Warten revolutioniert und zur Hauptsache erklärt haben. Das Sympathische am neuen Papst ist seine Aufrichtigkeit. Wir können nicht wissen, ob es Gott gibt, sagt sogar der Papst. Der Papst! Für einen Papst ein etwas ungewöhnliches Bekenntnis. Er ist eben doch ein Intellektueller. Das besonders Katholische an diesem Intellektuellen ist nur die Schlussfolgerung. Eben weil wir nicht wissen können, ob es Gott gibt, müssen wir umso fester an ihn glauben.
Das Christentum ist eine ziemlich riskante Wartegemeinschaft. Aber wie konnte es überhaupt passieren, dass so ein paar abstruse Bettelschismatiker einer ohnehin etwas abstrusen Religion einer kleinen eroberten Provinz (mit den Augen Roms gesehen) sich über die ganze Welt verteilten? Es gibt mehrere Komplementärursachen. Eine war – vor beinahe zweitausend Jahren schon – eine stillschweigende Rentenreform. Das könnte Angela Merkel interessieren.
Die urchristlichen Kommunisten teilten alle Güter, aber nicht aus quasikommunistischem Gerechtigkeits- und Gleichheitsempfinden, sondern weil die Tage ohnehin gezählt sind. Es lohnte nicht mehr, etwas zu besitzen. Natürlich gab es auch unter den damaligen Apokalyptikern schon Realos, die etwas beiseite legten für den Fall, dass Jesus sich verspäten würde. Und dann starben schon die ersten und hinterließen ihre Frauen, und Jesus war immer noch nicht wieder da.
Wir sind hier in Palästina, dachten die Ökonomen der Urgemeinde, also bekam eine hebräische Witwe mehr als eine griechische Witwe, was zur Empörung der Griechen führte. Seit wann gibt es Witwen erster und zweiter Klasse? Also verließen die Griechen irgendwann Jerusalem. Und wenn man schon einmal unterwegs ist, kann man ja allen mitteilen, dass da einer wiederkommen wird. Vielleicht nicht sofort. Aber bald. Oder etwas später. Benedikt XVI., die Spätfolge einer frühchristlichen Rentenreform. Aber in dieser Mitternachtsmesse schrumpfte der Abstand von über zweitausend Jahren auf einen Jetztpunkt zusammen. Zu einer zeitlosen Gegenwart. Es gibt nichts Machtvolleres als solche Ewigkeitsaugenblicke.
Da kann Schiller nie und nimmer mithalten. Wie der Name „Ode an die Freude“ schon sagt, handelt es sich um ein ziemlich optimistisches Gedicht. Und nichts ist toter als der Optimismus. Optimismus ist etwas für die Börsen. Im Gegenteil, unsere Gemütslage gleicht doch eher der der frühen Jerusalemer Naherwarter. Wir haben es nicht mehr in der Hand, und der Kommunismus ist auch kein Ausweg, siehe die urchristliche Rentenreform. „Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium“? Christlich undenkbar. Ein wirklicher Christ freut sich nicht am Diesseits. Schillers Elysium ist griechisch.
Schwer zu sagen, was Beethoven dazu gebracht hat, dieses peinliche Gedicht zu komponieren. „Seid umschlungen, Millionen“? Es ist das zu groß gereimte Resultat einer Privatekstase im Körner’schen gastfreundlichen Hause. „Ja – wer auch nur eine Seele / Sein nennt auf dem Erdenrund! / Und wer’s nie gekonnt, der stehle / Weinend sich aus diesem Bund.“ Dieser feierliche Ausschluss ist geschmacklos. Ein solcher Fauxpas wäre dem Christentum nie passiert. Und genau hier liegt sein Betriebsgeheimnis: Auch du bist gemeint, selbst wenn du nirgends sonst gemeint bist! Dass aber kein Mensch als er selbst gemeint ist, nicht von der Natur und nicht von irgendwelchen ewigen Ordnungen, ist ein bedenklich modernes Wissen.
Neujahrsansprachen wollen das vertuschen. Sie folgen der quasikommunistischen Maxime: Das neue Jahr ist für alle da. Es ist noch nicht lange her, da sendeten die TV-Anstalten die Neujahrsansprache des Bundeskanzlers vom Vorjahr, und mancher merkte gar nichts. Dieses Jahr würde das nicht klappen. Immerhin musste die „Neujahrsansprache des Bundeskanzlers“ schon umbenannt werden in „Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin“. Angela Merkel wird wieder ihr allerwichtigstes, allerernstestes Beflissenheitsgesicht aufsetzen und sagen: Ich möchte Deutschland vorwärtsbringen! Und Millionen Unumschlungener werden ganz tief innen wissen, dass sie nicht gemeint sind. Es ist doch gut, dass Angela Merkel nicht Papst geworden ist.