Noch schlimmer als erwartet

Ein Jahr Hartz IV in Berlin: Knapp jeder siebte Hauptstädter ist mittlerweile in die Armut abgerutscht. In den Behörden herrscht häufig Chaos, und das Sozialgericht ächzt unter den vielen Hartz-Verfahren

VON RICHARD ROTHER

Knapp ein Jahr nach Inkrafttreten der umstrittenen Arbeitsmarkt- und Sozialreform Hartz IV lässt sich die Bilanz für Berlin mit wenigen Worten zusammenfassen: Es kam noch schlimmer als erwartet. Dass die Arbeitslosigkeit sinken oder die Betreuung der Betroffenen sich verbessern würde, hatten ohnehin nur die Propagandisten der Reform behauptet. Dass so viele Menschen in Armut stürzen, Chaos und Schikanen in den Hartz-IV-Ämtern – beschönigend Jobcenter genannt – ein so großes Ausmaß annehmen würden, hat auch Kritiker überrascht.

Mit Hartz IV wurde zum 1. Januar 2005 die bisherige Arbeitslosen- und Sozialhilfe auf Sozialhilfeniveau zusammengelegt. War die alte Arbeitslosenhilfe noch abhängig vom ehemaligen Einkommen der Arbeitslosen, stehen nun Langzeitarbeitslosen lediglich 345 Euro pro Monat für den Lebensunterhalt zur Verfügung. Zudem werden angespartes Vermögen und das Einkommen des Lebenspartners rigide angerechnet. Gegen die Hartz-IV-Reform, die die ehemalige rot-grüne Bundesregierung mit Unterstützung von CDU und FDP durchsetzte, hatte sich zuvor eine bundesweite Protestbewegung gebildet. Sie führte zur Gründung der Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG), die nun mit der Linkspartei.PDS fusionieren will.

Die Berliner Linkspartei-SenatorInnen Heidi Knake-Werner (Soziales) und Harald Wolf (Arbeit) fühlen sich in ihrer Kritik an der Reform, die sie umsetzen müssen, bestätigt. Hartz IV habe die Armut in Berlin verstärkt, so Knake-Werner. Deutlich mehr Menschen als angenommen seien vom sozialen Abstieg betroffen, insgesamt müssten rund 500.000 Berliner – mehr als jeder siebte – vom Arbeitslosengeld II leben. Das seien fast 100.000 mehr als ursprünglich geschätzt. „Meine Zweifel, dass Hartz IV nicht zur dauerhaften Integration in den Arbeitsmarkt beiträgt, haben sich leider bestätigt“, so Knake-Werner.

Auch der Arbeitssenator bleibt kritisch. Die Orientierung auf eine schnellere Vermittlung der Langzeitarbeitslosen mache nur Sinn, wenn ausreichend Angebote zur Verfügung stünden, so Wolf. Weil das in Berlin nicht der Fall sei, könne der wachsende Druck auf die Betroffenen kaum etwas bewirken. Auch die über 30.000 1-Euro-Jobs hätten bislang nicht viel gebracht, weil sie kein reguläres Arbeitsverhältnis begründeten. Wer sich so verdingt, erhält in Berlin zusätzlich zum ALG II in der Regel einen Stundenlohn von 1,50 Euro – und verschwindet vorübergehend aus der Arbeitslosenstatistik.

Das Chaos und Gedränge in den Hartz-IV-Behörden hat viele Betroffene kalt erwischt. Dachten sie zu Beginn des Jahres, es handele sich um Anlaufschwierigkeiten, wurden sie schließlich eines Besseren belehrt: Fehlende Ansprechpartner, verschwundene Akten, wochenlanges Feilschen um Einzelfallhilfen – solche Erfahrungen haben viele gemacht. Und wenden sich an das Berliner Sozialgericht, das durch die hohe Zahl der Hartz-IV-Verfahren nach Angaben eines Sprechers „an das Limit der Belastbarkeit“ geraten ist. In den rund 7.000 Eilverfahren mussten die Betroffenen erst darauf drängen, „die überlasteten Behörden durch eine Eilentscheidung des Gerichts überhaupt erst zu einer Entscheidung zu zwingen“.

Beeinflusst hat Hartz IV auch den Berliner Wohnungsmarkt. Weil die Kommunen einen Teil der Unterkunftskosten der Arbeitslosengeld-II-Empfänger tragen, hat der Senat festgelegt, welche Wohnungen für Betroffene als angemessen gelten. So darf bei einer Person die Warmmiete – also inklusive Heiz- und Betriebskosten – maximal 360 Euro betragen, bei zwei Personen sind es 444 Euro, bei drei 542 Euro. Darauf haben sich offenbar auch die Berliner Vermieter eingestellt. So gebe es etwa bei kleinen Wohnungen auffallend viele, deren Preis knapp unter diesen Beträgen liege, sagen Sozialexperten. Die Leidtragenden dieser Entwicklung sind Studenten oder Geringverdiener, die günstigen Wohnraum suchen.