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Archiv-Artikel

Deutsche Ärztin wegen Folter in Chile in Haft

Die 75-jährige Gisela Seewald leitete das Krankenhaus der berüchtigten deutschen Siedlung „Colonia Dignidad“

BUENOS AIRES taz ■ Die deutsche Ärztin und ehemalige Leiterin des Krankenhauses der Deutschen-Siedlung Colonia Dignidad in Chile, Gisela Seewald, ist am Dienstag in Santiago de Chile unter dem Vorwurf der systematischen Misshandlung und Folter Minderjähriger festgenommen worden. Dem zuständigen Untersuchungsrichter hatte die heute 75-Jährige Folterungen mit Einsatz von Elektroschocks und Psychopharmaka im Siedlungshospital gestanden.

Nach den Aussagen der Ärztin wurden die Maßnahmen bei Jugendlichen und Erwachsenen der Kolonie eingesetzt, um ihr sexuelles Verhalten zu kontrollieren und Fluchtversuche zu bestrafen. Jugendliche, die gegen das sexuelle Tabu der Siedlung verstießen, wurden im Krankenhaus der „Behandlung“ unterzogen, die Monate andauern konnte. Darunter waren auch Kinder, die sich dem sexuellen Missbrauch durch Siedlungsgründer Paul Schäfer widersetzten.

Die Zeit unter der Leitung von Seewald sei die schrecklichste Phase im Krankenhaus gewesen, so Untersuchungsrichter Jorge Zepeda. Gisela Seewald habe bei ihren „Behandlungen“ ein spezielles Instrument eingesetzt, das bis heute nicht gefunden wurde.

„Doctora Seewald“ galt als „schüchterne Frau“. Von 1975 bis 1978 war sie die Leiterin des Siedlungshospitals. Noch bis 2002 arbeitete sie in der siedlungseigenen Apotheke. 1987 wurde in Chile schon einmal gegen sie ermittelt, wegen des Todes des Minderjährigen Herrmann Münch. Das Kind war an den Folgen einer Kopfverletzung gestorben, die von einem Gewehr herrührten. Das Verfahren wurde wegen Verjährung eingestellt.

Gisela Seewald ist auch in Deutschland keine Unbekannte. Bereits im Februar 1988 wurden ihre menschenverachtenden Praktiken in einer Anhörung im Deutschen Bundestages zu den Menschenrechtsverletzungen und der Freiheitsberaubung in der Colonia Dignidad von ehemaligen Koloniebewohnern ausführlich geschildert. Passiert ist danach jedoch nichts.

1930 wurde sie in Deutschland als Gisela Tabea Gruhlke Hahn geboren. Medizin studierte sie in Hamburg. 1963 reiste sie nach Chile, wo ihr Mann Gerd Seewald bereits seit zwei Jahren lebte. In Chile besaß ihr Ärztetitel jedoch keine Gültigkeit. Gerd Seewald, führendes Mitglied der Colonia und Vertrauter von Paul Schäfer, leitete die Schule der Kolonie. Im November 2004 wurde er zusammen mit 19 weiteren Siedlungsmitgliedern in Chile wegen Beihilfe zum Kindesmissbrauch in 26 Fällen zu fünf Jahren und einem Tag Haft verurteilt.

Zu ihrer Rechtfertigung sagte die deutsche Ärztin, alles sei auf Anordnung von Paul Schäfer erfolgt. Schäfer hatte die 13.000 Hektar umfassende „Kolonie der Würde“ 400 Kilometer südlich von Santiago de Chile 1961 gegründet. Während der Diktatur von Augusto Pinochet (1973–1990) diente die Colonia dem chilenischen Geheimdienst als Folterzentrum. Im März 2005 war Schäfer in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires verhaftet worden. Seit seiner Auslieferung nach Chile sitzt er in Haft. Gisela und Gerd Seewald lebten bis zu ihrer Verhaftung in der Colonia. Untersuchungsrichter Zepeda hat jetzt fünf Tage Zeit, um Anklage gegen Gisela Seewald wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzureichen. JÜRGEN VOGT