Nicht korrupt und politisch unabhängig

STRAFGERICHT Thomas Darnstädt zeichnet in seinem Buch, „Der Richter und sein Opfer“, über Fehlurteile und das Versagen juristischer Kontrolle trotz berechtigter Kritik ein zu negatives Gesamtbild der Justiz

Bauer Rupp wurde von seiner Frau als vermisst gemeldet. Er sei aus dem Wirtshaus nicht nach Hause gekommen. Die Polizei fand heraus: Seine eigene Familie hatte Bauer Rupp erschlagen, die Leiche zerstückelt und an die Hofhunde verfüttert. Seine Frau, die beiden Töchter und deren Freund wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Alle waren geständig.

Vier Jahre später wurde Bauer Rupps Mercedes aus der Donau gezogen, darin auch seine Leiche. Der Bauer war wohl ermordet worden – aber offensichtlich nicht an die Hunde verfüttert. In einem Wiederaufnahmeverfahren sprach ein anderes Gericht die Familienmitglieder nun frei. Wie sich jetzt herausstellte, hatte die Polizei ihnen die Geständnisse nur in den Mund gelegt.

„Der Richter und sein Opfer. Wenn die Justiz sich irrt“, heißt ein aktuelles Buch des Spiegel-Journalisten Thomas Darnstädt, in dem er fünfzehn derartige Fälle spannend aufbereitet und dabei schildert, wie Fehlurteile zustande kommen können.

Ausgangspunkt seien oft einseitige Ermittlungen der Polizei, so Darnstädt, die sich frühzeitig auf eine bestimmte Hypothese festlege. Selbst Geständnissen sei nicht zu trauen, wenn die Polizei die Verdächtigen nach langen zermürbenden Verhören dazu überrede. Auch technische Gutachter, auf deren Expertise sich Richter oft zu sehr verlassen, könnten verhängnisvolle Fehler machen.

Immer wieder komme es schließlich zu falschen Anschuldigungen, insbesondere bei angeblichen Vergewaltigungen – wie etwa im Fall des Lehrers Horst Arnold, der von einer Kollegin fälschlich beschuldigt worden war. Erst nach der Verurteilung fiel einer Frauenbeauftragten auf, dass diese Lehrerin ständig die Schule wechselte und dabei mit immer neuen Lügengeschichten Probleme verursachte. Beim Vorwurf des Kindesmissbrauchs komme als Fehlerquelle noch, so Darnstädt, die Phalanx oft ebenso fanatischer wie dilettantischer Kinderschutzexperten mit ihren suggestiven Befragungstechniken hinzu.

Viel zu oft versage die Kontrolle der Justiz: Die Staatsanwaltschaft folge der Polizei, das Gericht folge der Staatsanwaltschaft. In der Revision könnten nur Rechts- und Denkfehler gerügt werden, nicht aber zum Beispiel die falsche Darstellung einer Zeugenaussage im Urteil. „Die Justiz ist das einzige Großunternehmen, das es sich erlauben kann, aus seinen Fehlern nicht zu lernen“, kritisiert Darnstädt.

Doch sein Gesamtbild der Justiz, die „im Blindflug“ agiere und nur eine „große Wahrheitsshow“ produziere, ist zu negativ. Sie ist keine „Fehlkonstruktion“ und erst recht kein „Spukschloss“. Vielmehr beneiden uns die Bürger vieler Staaten um eine Justiz, die nicht korrupt und im wesentlichen politisch unabhängig ist. In vielen der von Darnstädt aufgezählten Fällen, etwa bei der Vergewaltigungsanklage von Wettermoderator Jörg Kachelmann, ist nicht einmal sicher, ob es sich tatsächlich um Fehlleistungen der Justiz handelte.

800.000 Entscheidungen fällt die deutsche Strafjustiz jedes Jahr. Darnstädt geht davon aus, dass jedes vierte Urteil fehlerhaft ist. Zur Begründung verweist er nur auf die Schätzung eines BGH-Richters. Aber selbst wenn es jährlich nur 1.000 Fehlurteile gäbe (das entspräche einer Quote von 0,125 Prozent), lohnte es sich, über Verbesserungen nachzudenken. Man muss nicht völliges Systemversagen konstatieren, um Reformvorschläge machen zu können.

So schlägt Darnstädt vor, Strafrichter breiter auszubilden. Neben Rechtsfragen sollten sie auch Psychologie und viele andere Fächer studieren, um weniger auf Experten angewiesen zu sein. Vernehmungen bei der Polizei und vor Gericht sollten künftig immer aufgezeichnet werden, um das Entstehen der Aussagen später nachvollziehen zu können. Die Revision von Strafurteilen soll ausgeweitet und die Wiederaufnahme von Verfahren erleichtert werden.

Neben solchen sinnvollen Forderungen schießt Darnstädt aber auch bei seinen Vorschlägen übers Ziel hinaus, etwa wenn er Richter auch bei fahrlässig falschen Urteilen bestrafen will (bisher ist bei Rechtsbeugung Vorsatz erforderlich). Wer eine unabhängige Justiz will, muss ihr eben auch vertrauen und darf Richter nicht gleich als potenzielle Straftäter betrachten.

CHRISTIAN RATH

■ Thomas Darnstädt: „Der Richter und sein Opfer. Wenn die Justiz sich irrt“. Piper Verlag, München 2013, 352 Seiten, 19,99 Euro