Horst Köhlers amerikophiler Ideenkatalog

Der Bundespräsident schlägt vor, Jobs mit einem Steuerzuschlag zum Niedriglohn zu schaffen. Ob das sozial ist, hängt von der Ausgestaltung ab

BERLIN taz ■ Was hat Horst Köhler da gesagt? In seinem Jahresend-Interview im Stern hat der Bundespräsident einige präsidiale Akzente gesetzt, die sich im kommenden Jahr sicherlich vor allem im Ideenkatalog der Amerikophilen in der großen Koalition wiederfinden werden. So hält Köhler „die Zeit für gekommen, die Ertragsbeteiligung der Arbeitnehmer oder ihre Beteiligung am Produktivvermögen wieder auf den Tisch zu bringen“.

Diese Forderung ist jedoch nicht zu verwechseln mit dem neuen großkoalitionären Trend zur Kleinkonsumentenfreundlichkeit. Denn wer Gewinnbeteiligung sagt, wird bei Verlustbeteiligung nicht schweigen. Nicht ohne Grund setzen die deutsche Gewerkschaften daher auf langfristige Lohnerhöhungen statt darauf, das Unternehmerrisiko auf die Arbeitnehmer zu übertragen. Wer außerdem Arbeitnehmer – wie in den USA stark verbreitet – als Aktionäre zu Mit-Kapitalisten macht, vergrößert die ohnehin tiefe Interessenkluft zwischen Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitsplatzlosen.

Um so interessanter ist, was Köhler zur Behebung der Massenarbeitslosigkeit zu sagen hat. Denn hier betritt er das Terrain, das die große Koalition sich verpflichtet hat zu gestalten – und er wird nichts anregen, was Kanzlerin Angela Merkel (CDU) nicht selbst schon bebrütet. „Wir könnten über eine Art Grundeinkommen nachdenken. In Amerika gibt es da etwas, was negative Einkommensteuer genannt wird: Wer nichts verdient, erhält eine Grundsicherung vom Staat.“ Ein Kombilohn sei nötig. Wer von einem marktbedingten Niedriglohn nicht leben kann, dessen Einkommen „muss man“ staatlich „aufstocken“.

Ein „Grundeinkommen“ als „Grundsicherung“ ist erst einmal alles in Industrienationen Übliche, was den Arbeitslosen vom Verhungern abhält: In Deutschland sind das seit diesem Jahr das Arbeitslosengeld II für Arbeitsfähige sowie die bewährte Sozialhilfe für nicht Arbeitsfähige. Was Köhler konkret anregt, ist ein Modell des Kombilohns, das aus Großbritannien und den USA bekannt ist: die negative Einkommensteuer.

Die funktioniert wie eine umgekehrte Steuer: Wer unter ein bestimmtes Jahresgehalt fällt, muss nicht Steuern zahlen, sondern bekommt einen Zuschlag aus dem Steuertopf. In den USA gibt es diesen Earned Income Tax Credit, seitdem die Regierung in den 1970er-Jahren darauf reagieren musste, dass viele Menschen trotz Vollzeitjob ihre Kinder nicht ernähren konnten. Zu einem Armuts- und Arbeitslosigkeitsbekämpfungsprogramm ausgebaut wurde die negative Einkommensteuer ab 1993 durch Präsident Bill Clinton. „Welfare to work“ und „make work pay“ waren die Schlagworte dazu.

Wer in Deutschland eine negative Einkommensteuer fordert, erkennt erstens an, dass es einen breiten, staatlich subventionierten Niedriglohnsektor geben muss – nicht bloß kleine Modellprojekte hier und da und 250.000 Ein-Euro-Jobs bei Caritas und Co. Zweitens ist er willens, hierzu sehr viel Geld in die Hand zu nehmen. Clinton erhöhte die Steuern für Gut- und Spitzenverdiener übrigens beträchtlich. Drittens lautet das Risiko, dass die Löhne abrutschen. Es gibt kein Kombilohnmodell ohne „Mitnahmeeffekte“ durch Arbeitgeber und den Fehlanreiz zur Schwarzarbeit. Viertens müsste geklärt werden, was mit den Sozialversicherungsbeiträgen passiert.

Dass das Modell Jobs in großer Zahl schafft, gilt als unumstritten – ob es fair zu den Betroffenen ist, hängt von der Ausgestaltung ab. Clintons Arbeitsminister, der Harvard-Professor Robert Reich, der das US-Modell maßgeblich entwickelt hatte, war vom schließlich verabschiedeten Gesetz zutiefst enttäuscht.

Reich schrieb 1999: „Die wahre Herausforderung bei der Sozialhilfereform liegt nicht darin, anständige Politik (decent policies) für die sehr Armen zu entwerfen. Sondern darin, den politischen Willen dafür zusammenzubekommen, was anständig ist. Und dafür wird es nötig sein, anständige Politik auch für die zu machen, die zwar noch nicht verarmt sind, aber mit jedem Jahr an ökonomischer Sicherheit verlieren.“ ULRIKE WINKELMANN