Entschuldigung, dass ich lebe

Am Ende des Jahres wird alles komisch: Muttersöhnchen von Vertriebenen bilden Weihnachtsneurosen aus und zwingen zum Zurückdenken an die tolle Linke. Da sucht man sein Heil in Pop-Erinnerungen und ignoriert lieber die Blutspur im Treppenhaus

VON DETLEF KUHLBRODT

Die Zeit verläuft langsamer zwischen den Jahren. Es ist auch viel stiller irgendwie und manches scheint existenzialistisch. Vor zwei Wochen, als ich spät nach Hause kam, gab’s eine Blutspur im Treppenhaus. Kleine, noch glänzende Blutflecken, die nach oben führten. Ich ging und es hörte nicht auf. Kurz dachte ich, die Blutspur würde zu meiner Wohnungstür führen, sie führte dann aber zum Nachbarn. Also alles okay. In seiner Wohnung brannte noch Licht. Von draußen war auch kein Stöhnen zu hören gewesen. Ich klingelte nicht, weil ich meinen Nachbarn kaum kenne und müde war, hatte aber ein schlechtes Gewissen beim Einschlafen.

Die Blutspur – er hatte Nasenbluten gehabt – blieb bis Weihnachten. Reste davon sind jetzt noch da, weil sich Blut wohl schlecht wegwischen lässt. Im letzten Jahr hatte jemand Unbekanntes zu Weihnachten Schokoladenweihnachtsmänner vor die Wohnungstüren gestellt. Das Leben scheint härter zu werden. Beim Scrabbeln erzählte H. von einer Fahrradfahrerin, die sie vor ein paar Tagen angeschrien hätte, anstatt ihr einfach auszuweichen. Sie hätte gesagt: „Entschuldigung, dass ich lebe“, und die Radfahrerin hätte geantwortet: „Macht nichts.“ – „Echt?“ – „Echt!“

Mundschnee

Das Ende des Jahres beginnt schon im Dezember. Den Kindern ist das klar, die haben ihre Adventskalender, auf denen der Jahresendcountdown schon am Ersten beginnt. Man selber verdrängt das ziemlich lange. Das Jahresende kommt einem wie so ein Gefühl vor, das sich kurz andeutet, um dann wieder zu verschwinden. Einmal beobachtete ich zwei kleine Mädchen mit irgendwie vietnamesischen Gesichtszügen, die zuvor noch nie Schnee gesehen hatten. Sie hatten ihre Münder geöffnet, in die es schneite, um zum ersten Mal Schnee zu schmecken. Dieser Schnee ging schnell wieder weg, aber es schneit noch immer. Erstaunlich. Auch dass nach Weihnachten alles weit weg zu sein scheint und die Zeit langsam läuft und früher damals war.

Weihnachtsfaschismus

Damals, vor zwei Wochen vielleicht, als wir am Flipper standen, hatte B., ein guter Freund und „komischer großer Bruder“, der in den Siebzigern linksradikal war, voller Stolz, wie mir schien, gesagt, er verbringe prinzipiell Weihnachten nicht in der Familie. Nicht bei seinen Eltern und auch nicht in der Familie seiner Freundin. Das hätte er vor 25 Jahren beschlossen. Man müsse seinen Grundsatzprinzipien treu sein. Das sei wichtig. Sozusagen eine Charakterfrage. Irgendwie ereiferte er sich, während wir da an unserem lieben Flipper standen, schimpfte über den „Weihnachtsfaschismus“ und erwähnte irgendeinen Streit mit seinen Eltern vor 25 Jahren. Irgendwie ärgerte mich das, was er im Hippiehalbdunkel unserer Kneipe sagte, und ich ärgerte mich darüber, dass ich tatsächlich verärgert war. Ich sagte nur etwas lahm: Man müsse eher Leuten treu bleiben als seinen komischen Grundsätzen. Dabei dachte ich an Freunde, mit denen man eine Weile eng verbunden war, dann aber irgendwie andere Wege gegangen ist, die sich nur noch manchmal kreuzen.

Als Suchtmensch verstand ich seinen Willen zur Rigorosität ganz gut: zum tapferen Weihnachtsgegner zu werden, irgendwann zu sagen, „nie mehr“, keine Familie, keine Heimat. Ich bin draußen. Ich geh lieber in meine Kneipe. Da sind meine Freunde am Tresen und Bier.

Und man denkt: Logisch, deine Eltern wurden 45 vertrieben und hatten deshalb wohl einen übertriebenen Familien- und Zuhausefimmel. Dass Weihnachtsneurosen unter Vertriebenen und ihren Kindern sehr verbreitet sind, ist eine Trivialität – und Rigorosität ein oft unterschätztes Mittel, das man zur Identitätsbehauptung, also Angstabwehr, einsetzt. B. verweigerte sich also rigoros der kernfamiliären Gemütlichkeit, dem herrschenden System, um in andere zu gelangen. Seine Theorie, der zufolge die großen 68er Helden, die RAFler und die dazu passenden Helden der Rockmusik, alle Muttersöhnchen waren, erscheint mir mittlerweile einleuchtender als früher. Enttäuschte Müttersöhnchen haben ja oft ein recht schönes und intensives Enttäuschungscharisma, das gut rüberkommt.

Andererseits: Wie in anderen Echos des Post-68er-Linken spiegelte auch das Echo seiner Siebzigerjahre-Linksradikalität – die Weihnachtsverweigerung – den versteinerten („deutschnationalen“, würde B. sagen), auf alles eine klare Antwort wissenden Wertekanon seiner Eltern, wirkte altersstarrsinnig und unkommunikativ. Irgendwie schien es mir aber auch so, als würde er häufig, wenn er so über den „Weihnachtsbaumfaschismus“ herzog, eigentlich einen Dummy vorschicken, eine von ihm gesteuerte, unverletzliche Kunstfigur, die Faxen macht, unzeitgemäße Thesen vertritt, um selber dahinter ungestört bei sich zu sein. Manchmal gehe ich darauf ein und beschimpfe ihn, weil er trinkt, und sage, dass Alkohol superspießig wäre und alle Leute unbedingt ständig kiffen sollten, was natürlich auch Blödsinn ist.

Die Eltern der heute 40- bis 50-Jährigen waren als Kinder oder Jugendliche im Krieg gewesen und hatten ihren kleinen Jungs Modellflugzeugbomber der Firma „Revel“ geschenkt, die wie Mobiles an der Decke der Kinderzimmer hingen. Die Jungs gingen dann mit 13 in irgendwelche marxistischen Schulungen, wurden arrogant und linksradikal, alkohol- oder und drogenabhängig, waren politisch aktiv, schrieben Arbeiten über die Reden Adolf Hitlers. So auch mein Freund B., der sich die Hitlerplatten zuweilen immer noch anhört, wenn er betrunken aus der Kneipe nach Hause kommt.

Verloren

Am Morgen des zweiten Weihnachtstages sah Lübeck so weihnachtlich, zugeschneit aus wie in der Kindheit. Auf der Rückfahrt nach Berlin verloren wir einen Fahrgast in Stolpe. Der junge Mann, der übermüdet wirkte, hatte die Abfahrt des Busses verpasst und in seiner Not dann beim ZOB in Berlin angerufen. Und der ZOB hatte dann unserem Busfahrer Bescheid gesagt, der dann umkehren musste. Weil die meisten wohl aus Schleswig-Holstein kamen, wurde nur wenig kritisch gemurmelt. Nur eine ältere Frau scherzte, nun müsse er eine Runde für den ganzen Bus ausgeben, als er dann ein bisschen bedröppelt wieder zustieg und gleich in seinem Sitz einschlief – vielleicht aber auch nur aus Scham die Augen zumachte.

Früher

Doch zurück zu B. Manchmal warf ich ihm wie meinen Eltern vor, zu viel in der Vergangenheit zu leben, sich zu wiederholen, in Ritualen zu verblöden. Letztlich auch, weil mir der Sog der Vergangenheit sehr vertraut ist. 2005 bestand für mich vor allem aus Nachdenken über Vergangenheiten. Es war ein einziges Revisited, bei dem ich den Eindruck hatte, auf klassische Strukturen zu stoßen: Immer fehlte etwas, immer wurde etwas ausgeblendet, das hätte stören können.

Wie soll man sagen: Der Verleger Schröder vom März-Verlag hatte – anlässlich der RAF-Ausstellung in den „Kunstwerken“ – das Buch „Die Reise“ von Bernward Vesper wieder aufgelegt und mir einen Brief geschrieben: Darin beklagte er sich über denunziatorische, fiese, Vesper betreffende Bücher und Texte und fragte mich, ob ich nicht über Vesper schreiben wollte. Ich habe das Buch, das ich als Teenager x-mal gelesen hatte, dann nochmal gelesen. Das heißt, nicht ganz: Ich konnte das, was ich als Jugendlicher toll gefunden hatte – diesen verzweifelten Versuch eines selbsttherapeutischen, ungeschützten Schreibens über 68ff und den Faschismus, der bekanntlich mit dem Selbstmord Vespers endete –, nicht mehr ertragen.

Mir schien das Buch nur noch psychohistorisch und nicht mehr literarisch interessant zu sein. Dass es so war, enttäuschte mich nicht. Aber irgendwie wunderte ich mich darüber, dass Vesper für die einen, die ihn wie ich Anfang der 80er mit Begeisterung gelesen hatten, ein Held war, und dass andre tatsächlich Bücher schrieben, um zu beweisen, dass er mit 20 ein Idiot war.

Dann ging ich in die RAF-Ausstellung, und es war komisch, dass dort keine taz-Artikel von früher dokumentiert waren. Das Zurückdenken an die tolle Linke war irgendwie enttäuschend. Seltsam, diese Sehnsucht nach strahlenden Helden, die natürlich tot sein müssen. Die popkulturellen Erinnerungen, in denen ich mich dann verlor, waren irgendwie interessanter. Das sind wenigstens abgeschlossene Kunstwerke. „Twin Peaks“ guckte ich mir x-mal nochmal an. Wenn sich vergangene Werke zu sehr mit vergangenen Lebenswelten und Sehnsüchten verbinden, mit lockeren oder engeren Selbstbildern, wird’s schwierig und schnell verlogen. Denn früher war gestern und heute ist das Früher anders und manchmal erschrickt man.

In dem Woodstock-Film, den ich mir neulich nochmal anguckte, trug einer der Musiker meiner Festival-Lieblingsband – Jefferson Airplane – ein Hakenkreuz. Natürlich ein Hippiehakenkreuz, aber ein Hakenkreuz, wie viele auch der Besucher.

Ende verstellen

Eigentlich hatte ich aber über Christian Ulmens Reality-Serie „Mein neuer Freund“ schreiben wollen. Kurz vor Weihnachten war die DVD dazu, die ich hatte verschenken wollen, überall ausverkauft. Das Setting der von Pro 7 produzierten, teils unglaublich komischen Reality-Serie ist so: Christian Ulmen spielt sehr anstrengende Leute, die extrem viel reden: Alexander, einen durchgeknallten Adligen, Ecke, einen harten Kiffer, Jürgen, einen kleinkriminellen Fußballfan, usw. Gecastete Leute müssen 48 Stunden mit einem der recht nervigen Characters zusammen sein, gute Miene zum bösen Spiel machen und ihren Freunden und Eltern vorspielen, dass das die große Liebe ihres Lebens wäre.

Ulmen ist in seiner Rolle zum Teil recht verletzend. Wer durchhält, bekommt 10.000 Euro. Durchhalten heißt für die Gecasteten also, ihre Freunde und Eltern zu belügen. Das Prinzip der Show sind bezahlte Lüge und Verrat. Um zu gewinnen, müssen die Gecasteten das, was sie sozial zusammenhält, irgendeine Überzeugung, zwei Tage lang verraten und diesen Verrat natürlich irgendwie so gestalten, dass sie nachher nicht mit Geld und ohne Freunde dastehen. Manche – die Überzeugungsfesten vielleicht – gaben zwischendrin auf; die meisten hielten durch.

Ich dachte erst an Stasi, Bild oder an Freunde, die in den Achtzigern von Nazis zusammengeschlagen wurden, weil sie sich geweigert hatten, den Hitlergruß zu machen. Aber das passte nicht richtig. Eigentlich ging es ja um den kleinen Selbstverrat, den jeder lernen soll, der als Arbeitsloser ein Vorstellungsgesprächstraining besucht. Es ging um das zugleich humoristische und aufklärerische Potential von Klischees und wie es ist, probeweise ein Klischee wie einen Anzug anzuziehen. Eigentlich war die Serie aber deswegen so unglaublich komisch, weil Christian Ulmen so gut spielte.

Und jetzt gehen wir mal im Schnee spielen und danach schön silvestern.