: Die Wasserleiche im finsteren Kanal
Juvénal Uwilingiyimana wusste viel über die Planung des Völkermords in Ruanda 1994. Vor kurzem verschwand er in Belgien. Jetzt taucht seine Leiche auf – ein mysteriöser Kriminalfall, der ein Schlaglicht auf Ruandas Vergangenheitsbewältigung wirft
AUS BRÜSSEL FRANÇOIS MISSER
Die Geschichte beginnt wie ein belgischer Krimi. Am 17. Dezember findet eine Spaziergängerin mit Hund in Brüssel eine Leiche und holt die Polizei. Der nackte Körper schwimmt im Charleroi-Kanal und ist so verstümmelt, dass zunächst nicht einmal das Geschlecht festzustellen ist. Es fehlen Lunge, Eingeweide und ein Fuss. Die Hände sind abgeschnitten. Die Leiche ist stark verwest, lag also schon lange im Wasser. Klar ist nur, dass sie afrikanischen Ursprungs ist.
Die Polizei erinnert sich, dass seit 21. November ein prominenter politischer Flüchtling aus Ruanda verschwunden ist: Juvénal Uwilingiyimana, ehemaliger Minister, wohnhaft nicht weit vom Kanal entfernt. Am 22. Dezember bestätigt die Polizei aufgrund von DNA-Analysen, dass die Wasserleiche tatsächlich die des Ruanders ist, ohne jedoch die Todesursache feststellen zu können: Mord oder Selbstmord.
Uwilingiyimana war depressiv, sagt seine Familie. Am Tag vor seinem Verschwinden irrte er am Kanalufer herum und wurde erst um zwei Uhr nachts von seinen Angehörigen gefunden und nach Hause gebracht. Seit 10. Juni ist der Ruander vor dem UN-Völkermordtribunal für Ruanda wegen Beteiligung am Genozid an 800.000 Menschen 1994 angeklagt, im Einzelnen wegen Massakern an 4.200 Menschen in der Nordwestprovinz Gisenyi. Uwilingiyimana gehörte damals zum engsten Machtzirkel der ruandischen Regierung. Vor 1990 war er Handelsminister, danach Direktor der Tourismusbehörde ORPTN. Er war Freund des Staatschefs Juvénal Habyarimana, Abgeordneter der Regierungspartei MRND und Mitglied ihres Zentralkomitees.
Die UN-Anklageschrift, so berichtet die belgische Zeitschrift Le Soir Magazine, wirft Uwilingiyimana vor, 1993 in Gisenyi eine Abteilung der Jugendmiliz der Regierungspartei aufgebaut zu haben, die später als Haupttäter des Genozids berüchtigten „Interahamwe“. Andere Quellen sagen der taz, Interahamwe-Milizionäre hätten im Akagera-Nationalpark, der der von Uwilingiyimana geleiteten Tourismusbehörde ORPTN unterstand, Übungen abgehalten und seien in OPRTN-Fahrzeugen dorthin gebracht worden. Er selbst habe im Oktober 1993 Waffen gehortet und an die Milizen verteilt. Er habe mehrfach zum Mord an Tutsi aufgerufen. Während des Genozids ab April 1994 habe er selbst einen Tutsi an einer Straßensperre getötet und im Hotel „Palm Beach“ in Gisenyi für die Mörder der Tutsi-Frau eines Bankiers eine Runde spendiert.
Treffen mit UN-Ermittlern
Am 17. August erwirkte der Chefankläger beim Ruanda-Tribunal der UNO, Bubacar Jallow, internationalen Haftbefehl gegen Uwilingiyimana. Er hoffte, von ihm Informationen über die Planung des Völkermords zu bekommen. Dafür hätte ein Teil der Anklage gegen ihn fallen gelassen werden können. Nach Angaben seiner Familie traf sich Uwilingiyimana drei Tage vor seinem Verschwinden mit UN-Ermittlern im französischen Lille.
Was sie dort besprachen, bleibt ungewiss. In einem Brief an Jallow mit dem Datum vom 5. November soll Uwilingiyimana die Zusammenarbeit mit dem Tribunal aufgekündigt haben. Die Ermittler hätten ihn bedroht, heißt es in dem Schriftstück, das Hutu-Extremisten ins Internet gestellt haben. „Ihre Ermittler haben mich gewarnt, dass man mich lynchen wird, dass meine Leiche mit Füßen getreten wird und die Hunde darauf pissen“, soll Uwilingiyimana geschrieben haben. „Egal: Lieber sollen die Hunde auf mich pissen … Ich will nicht lügen, um Ihren Ermittlern zu gefallen und Ihre These zu stützen, der Völkermord sei von der MRND und dem Akazu (Beraterkreis des Präsidenten, d. Red.) geplant worden.“ Das UN-Tribunal bezweifelt die Echtheit dieses Briefs, der nur digital existiert. In einem Communiqué vom 22. Dezember betont das Tribunal, der Brief sei eine Woche nach dem Verschwinden Uwilingiyimanas ins Internet gestellt worden – also nicht von ihm selbst. Uwilingiyimana selbst habe den Willen zur Zusammenarbeit bekundet. Und wieso hätte er am 5. November diese Zusammenarbeit aufgekündigt und sich am 18. November im Ausland mit den Ermittlern des Tribunals getroffen?
Die These, Uwilingiyimana habe sich angesichts seiner ausweglosen Lage das Leben genommen, hat noch andere Schwächen. Er müsste sich selbst zerfleischt haben, bevor er sich ertränkte. Bleibt die These des Mordes. Aber von wem oder warum?
Da haben Hutu-Extremisten in Belgien schnell die Antwort parat: Ruandas heutige Regierung unter dem Tutsi-Präsidenten Paul Kagame. Kagames „terroristisches Regime“ und die „von diesem Regime manipulierten terroristischen UN-Ermittler“ hätten den Exminister zum Feind erklärt, behauptet das Exilkollektiv CLIIR (Zentrum für den Kampf gegen Straflosigkeit und Rechtlosigkeit in Ruanda).
Aber Beweise dafür legt die Exilopposition nicht vor, und es bleibt auch unklar, was das Interesse von Ruandas Regierung oder UN-Tribunal an der Beseitigung des Politikers sein könnte, da dieser doch nur Geheimnisse des Völkermordregimes kannte, keine der heutigen Regierung. Vielmehr, so wehrt sich das Büro von UN-Chefankläger Jallow, habe Uwilingiyimana bei einem Treffen mit Jallow am 29. Oktober Angst vor „mächtigen Leuten in der ruandischen Exilgemeinschaft“ geäußert. Daher seien weitere Treffen von Belgien nach Frankreich verlegt worden. Man habe „außergewöhnliche Maßnahmen“ getroffen, damit Uwilingiyimanas Zusammenarbeit mit dem Tribunal nicht bekannt werde. Tatsächlich wusste der Exminister vieles über die ruandische Exilszene. Er arbeitete in Brüssel in der Organisation „Fédération Éspoir d’Afrique“ (FEDA), geführt von Eugène Nahimana, einstiger Aktionäre des Hetzradios „Mille Collines“ zu Zeiten des Völkermords.
Kurz vor Weihnachten fand ein Spaziergänger am Charleroi-Kanal wieder etwas im Wasser: einen Arm. Von Uwilingiyimana? Das ist noch nicht klar.
Eines ist sicher: Die Zurichtung der Leiche verbreitet Angst unter Ruandern in Belgien. Tutsi fürchten, dass Todesschwadrone aus der Zeit vor 1994 reaktiviert worden sind. Und Hutu haben Angst vor neuen Killern.