: Die Wiedergeburt der Platte
Reihenweise werden leerstehende DDR-Plattenbauten abgerissen. Dabei können die Häuser in ihre Einzelteile zerlegt und wiederverwendet werden. Berliner Architekten nutzen sie als Material für Einfamilienhäuser. Abbau, Transport und Wiederaufbau der Platten müssen dabei genau geplant werden
VON FRIEDERIKE MEYER
Das Gartenhaus von Carsten Wiewiorra sieht aus, als wäre es aus einem riesigen Baukasten gepurzelt: vier Platten hochkant, eine waagerecht obendrauf, zwei Dreiecke für die Dachschräge. Seit wenigen Tagen steht das seltsame graue Gebilde im Hinterhof der Wolliner Straße 50 in Berlin-Mitte. In sechs Meter Höhe baumelt die Richtkrone.
Der Aufbau war Millimeterarbeit, die Teile kamen über das Grundstück des Nachbarn – gestapelt auf einem Sattelschlepper. Drei Firmen hatte Wiewiora angefragt. Nur eine war bereit, die fünf Tonnen schweren Betonplatten in das Innere des Wohnblocks am ehemaligen Mauerstreifen zu hieven. Nach zwei Tagen, sagt Wiewiorra, sei der Rohbau fertig gewesen. Auf die Wände hat jemand 10/12 mit Kreide geschrieben. „Das war Wohnung Nummer 12 vom 10. Stock“, erklärt er.
Jetzt will sich Wiewiorra, der selbst Architekt ist, ans Ausbauen machen. 10.000 Euro hat er für die Montage bezahlt. Das Material war geschenkt. Die Decken und Wände entstammen einem elfgeschossigen Wohnhaus aus Marzahn. Sechs Meter lang, drei Meter hoch sind die Betonscheiben. Das ist das Maß beim WBS 70, einem der meistgebauten Wohnungstypen in der DDR.
Über 1 Million Wohnungen stehen heute leer in Ostdeutschland. 350.000 von ihnen sollen in den nächsten Jahren abgerissen werden, finanziert aus dem Bund-Länder-Programm „Stadtumbau Ost“. Leerstand verderbe das Image und koste die Wohnungsbaugesellschaften unnütz Geld, lautet die Argumentation. Das Programm unterstützt jeden Quadratmeter, der vom Markt verschwindet, mit 60 Euro.
Normalerweise landen die demontierten Bauteile im Sondermüll, bestenfalls als Schotter unter den neuen Straßen. Einige Baufachleute aber sagen den standardisierten DDR-Platten ein zweites Leben voraus. Sie nach 20 Jahren wegzuwerfen, halten sie angesichts der auf 100 Jahre ausgelegten Lebensdauer für Verschwendung. Warum also sollte man die Bauteile nicht wieder verwenden?
Seit fünf Jahren experimentieren Ingenieure deshalb mit dem Baukastensystem der sozialistischen Bauindustrie. Schließlich können die fertigen Häuser fast ohne Verluste wieder in einzelne Teile zurückverwandelt werden. In der Cottbuser Siedlung Sachsendorf-Madlow zerlegten sie zum Beispiel einen Zwölfgeschosser für den Bau kleiner Stadthäuser. Danach war klar: Das Recycling funktioniert, die Bewohner sind glücklich.
Die Platte ist billig
Seitdem rechnen die Ingenieure die Sache wirtschaftlich und ökologisch durch, finanziell gefördert mit Geld vom Bund. „Ein Rohbau aus Plattenbauteilen ist bis zu 30 Prozent günstiger als einer aus gewöhnlichen Baustoffen“, sagt Claus Asam vom Institut für Erhaltung und Modernisierung von Bauwerken an der Technischen Universität Berlin (IEMB).
Die Untersuchung des 39-jährigen Bauingenieurs begann vor zwei Jahren in Marzahn – dort, wo jener Elfgeschosser stand, der zum Gartenhaus in Mitte geworden ist. Während sich der Bagger von Geschoss zu Geschoss fraß und unten der Schredder auf die ehemaligen Wohnzimmerwände und Küchenfußböden wartete, um sie für den Container zu zerkleinern, verhandelte Claus Asam mit der Abrissfirma. Einige der Wohnungen ließ er sorgsam auseinander nehmen und die Wände abtransportieren in die Testhalle seines Instituts auf dem ehemaligen AEG-Gelände in Wedding. Dort prüfte Asam das Material. Mehrere Monate lang belastete er die Platten, presste, zersägte, durchbohrte sie. Sein Ergebnis: Der Beton ist von guter Qualität.
Asam hat in Marzahn keine einzige Platte gefunden, die nicht wiederverwendbar gewesen wäre. Einzige Ausnahme: die Außenwandplatten der Wohnhochhäuser. Sie sind mit einem Material gedämmt, das beim Zersägen der Platten gesundheitsschädliche Stoffe freisetzt. Claus Asam fand auch ein ökologisches Argument für die Wiederverwendung: Zur Herstellung von einer Tonne Beton, hat er berechnet, werden bis zu 80 Liter Heizöl benötigt. Bei einer Platte sind das 400 Liter. Anders formuliert: 900 Euro würde die Herstellung einer 3 mal 6 Meter großen Platte heute kosten.
Das Schwierige, sagt Asam, sei die Logistik. Nur wenn Abbau, Transport und Wiederaufbau der Platten optimal aufeinander abgestimmt sind, rechnet sich das Recycling. Denn Wartezeiten von Kran oder Tieflader sind sehr teuer. Deshalb müsse rechtzeitig bekannt sein, wann und wo ein Haus abgerissen wird, wo es so genannte Spendergebäude gibt.
Spendergebäude zum Beispiel hat die Degewo. In Marzahn gehören dem Wohnungsbauunternehmen 36.000 Wohnungen. In diesem Jahr will es dort weitere 1.256 Wohneinheiten „vom Markt nehmen“. So wird der Abriss offiziell bezeichnet. Sprecherin Erika Kröber zweifelt allerdings an einer Wiederverwendung der Platten im großen Stil. „Wir haben das für uns mal durchgerechnet. Es lohnt sich wirtschaftlich nicht“, sagt sie. Kröber relativiert die Bedeutung von Asams Hallenexperimenten für ihre Firma: Das Projekt des IEMB sei ein Modellvorhaben, ermöglicht durch Fördergeld und private Initiative. „Wenn aber jemand kommt und ein Konzept vorlegt, das sich im großen Maßstab rechnet“, sagt Kröber, „ist die Degewo offen für alles.“
„Großes Interesse“
Einer, der an einem solchen Konzept arbeitet, ist der Berliner Architekt und Wirtschaftsingenieur Hervé Biele. Mit seinem Architekturbüro hat sich der 32-Jährige auf Plattenbauten spezialisiert. Ihm geht es dabei nicht um reine Gestaltung, sondern um Bauabläufe und Kostenplanung, um die Prozessoptimierung. Arbeit gibt es für ihn genug. Im Frühjahr will er die ersten Hallen und Märkte aus Plattenbauteilen errichten. Über 150 Anfragen sind schon eingetroffen. Biele relativiert: „Natürlich ist nicht jede Anfrage ein Projekt. Aber die Zahl steht für das große Interesse.“
Gemeinsam mit Claus Asam vom IEMB hat Hervé Biele aus den Platten in der AEG-Halle drei Testbauten errichtet. Eines davon ist das Gartenhaus; die anderen beiden stehen jetzt einige Kilometer entfernt von der Halle, auf Grundstücken in Mehrow und Schildow, im Speckgürtel von Berlin. Der Kontakt zu den – ostdeutschen – Bauherren in Mehrow sei „schon sehr alt“. Seit August wohnt die dreiköpfige Familie in einem 200 Quadratmeter Einfamilienhaus aus 27 Deckenplatten und 22 Innenwänden des abgerissenen Marzahner Elfgeschossers. Von außen ist davon nichts mehr zu erkennen. 840 Euro pro Quadratmeter hat das Haus gekostet. Das ist deutlich weniger als der vergleichbare Durchschnitt in Deutschland: Der liegt laut Biele bei 1.100 Euro.
„Die Baukosten verschieben sich. Da der Rohbau günstiger ist, können die Bauherren mehr in die Haustechnik stecken“, sagt der Architekt. Zum Beispiel in Wärmepumpen oder in hochwertige Dämmung. Bei dem Wohnhaus, das er in Schildow betreut, soll es auch Solarzellen geben auf dem Dach. Der Bauherr ist Unternehmensberater und kommt aus Westdeutschland.
Das Besondere seines Hauses, das derzeit im Rohbau zu besichtigen ist: Es hat ein ganz normales Satteldach. Denn auch schräge Flächen sind möglich mit den Platten. Das haben Biele und Asam getestet. „Wir können alle möglichen Formen zuschneiden“, so Biele. Auf die Wünsche der Bauherren eingehen, darin liegt für ihn der Schlüssel des Erfolgs. Einen ganzen Katalog von neuen Haustypen hat er auf seiner Internetseite veröffentlicht (www.conclus.de).
Exportmarkt Russland
Auch Angelika Mettke arbeitet an einem Baukatalog. Im Internet will sie eine Bauteilbörse einrichten, in der sich Interessenten über die zur Verfügung stehenden Bauteile informieren können. Am Lehrstuhl Altlasten der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus (BTU) leitet die Wissenschaftlerin ein Forschungsprojekt zum Rückbau, testet die Wiederverwendung von Plattenteilen auch für den Deichbau, für Lärmschutzwälle und Swimming-Pools. Dass sich das Bauen mit Platten durchsetzt, davon ist Angelika Mettke überzeugt. „Es muss sich nur die Einstellung in den Köpfen ändern“, sagt die 53-Jährige.
Peter Junne hat da weniger Hoffnung. Beim Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ist er zuständig für die Projektförderung im Bereich der Bauforschung. „Das Geschäft in Deutschland wird klein bleiben.“ Erstens gelte es als „ärmlich“, mit gebrauchten Betonteilen zu bauen. Zweitens dauere es noch lange, bis die Frage der Gewährleistung von recycelten Baustoffen bei den Bauaufsichtsbehörden durchgesickert ist. Das dritte Problem sei die Logistik. Keiner wisse, wie sich der Markt entwickelt, wie viel Spendergebäude wann wo zur Verfügung stehen. „Diese Dinge hat man nicht im Griff“, gibt Junne zu.
Die Hoffnung der Fachleute richtet sich indes auf die Nachbarn im Osten, auf Russland. Ex-Bundesverkehrsminister Manfred Stolpe sprach Ende vergangenen Jahres von 240.000 Quadratmetern Wohnfläche, die in Russland wieder aufgebaut werden sollen. „Das ist alles noch nicht spruchreif“, sagt Angelika Mettke, die bei den Verhandlungen mit den russischen Interessenten dabei ist.
Die dortige Wohnungsindustrie hat sich Mettke angesehen. Auch die russischen Wohnungswirtschaftler rechneten knallhart. Nur wenn der Transport der Platten billiger ist als ihre Herstellung vor Ort, könnte ein Vertrag zustande kommen. Deswegen werde überlegt, die Platten über die Ostsee zu verschiffen. Nicht nur in St. Petersburg gebe es Interessenten, sondern auch in anderen Großstädten. In der Gegend um St. Petersburg herrscht extremer Wohnungsmangel, so Mettke. Gleichzeitig wünschten sich die Menschen individuelle Wohnhäuser. Dabei hätten sie weitaus weniger Probleme, in Betonplatten zu wohnen, als viele Deutsche. Angelika Mettke ist optimistisch: „Das, was wir an rückgebauten Platten zur Verfügung haben, wird den Bedarf im Wohnungsbau in Russland gar nicht decken können.“