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Archiv-Artikel

Er will nicht im Land der Schlafmützen leben

GREEN NEW DEAL Ralf Fücks, grünes Urgestein, nennt Gründe dafür, dass Wirtschaftswachstum doch gut ist – gegen das alte Lebensgefühl der Umweltbewegung

VON HANNES KOCH

Die Autobahn A1 Dortmund–Köln verläuft 400 Meter vom Elternhaus des Autors dieses Artikels entfernt. Anfang der 1970er Jahre, der Verkehr nahm zu. Trotz Krach musste nachts das Fenster aufbleiben. Lüften! Das Stahlwerk war ebenfalls gut zu hören. Dann kam die Verbreiterung auf sechs Spuren, der halbe Stadtwald wurde gerodet. Waldsterben auf die schnelle Art.

Erste Eindrücke vom permanenten Angriff der Zivilisation auf die Natur – aus solchen Stimmungen wurden später die Grünen geboren, und mit ihnen die große Frage, ob Wirtschaftswachstum Schicksal sein sollte. Was würde dann noch übrig bleiben? Zu wenig vielleicht. Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geerbt, hieß es.

Zwischen solchen Überlegungen und dem jetzt erschienenen Buch von Ralf Fücks, dem Vorstandsmitglied der grünennahen Heinrich-Böll-Stiftung, liegen 40 Jahre. Der Band heißt „Intelligent wachsen – die grüne Revolution“. Seine zentrale These, die manchen Grünen und Stiftungskollegen sauer aufstößt, lautet: Wachstum muss weiterhin sein, sonst wird Deutschland zu einem Land der Schlafmützen. Das alte Modell des Wachstums ist zwar überholt. Aber wir brauchen eine moderne, ökologische Variante. Fücks sagt: „Ich finde es nicht erstrebenswert, Europa zu einem Freilichtmuseum zu machen, das nur noch seinen schrumpfenden Wohlstand umverteilt.“

Fücks, 61 Jahre alt, früherer grüner Senator für Umwelt und Stadtentwicklung in Bremen, plädiert dafür, der Marktwirtschaft die zerstörerischen Wirkungen herauszuoperieren. Wie es beim Klima versucht wird: Energieverbrauch und Kohlendioxidausstoß runter, Wirtschaftsleistung weiter hoch. „Entkopplung“ heißt das im Fachjargon. Eindringlich warnt der Böll-Vorstand vor einer stagnierenden Wirtschaft – weil man damit die Kreativität eines ganzen Landes einschränke und weil Europa sonst von den aufstrebenden Mächten wie China, Indien und Brasilien marginalisiert werde.

Solche Gedanken gab es immer mal wieder, auch bei den Grünen, allerdings nicht in dieser Zuspitzung. Außerdem ist die Debattenlage jetzt speziell. Seit Beginn der Finanzkrise 2007 läuft eine neue Diskussion über den Sinn von Wirtschaftswachstum. Sie ist so einflussreich, dass der Bundestag vor gut zwei Jahren die Enquetekommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ einsetzte. Die beendet ihre Arbeit demnächst mit der Empfehlung, nicht mehr nur aufs Bruttoinlandsprodukt, die wertmäßige Summe der produzierten Waren und Dienstleistungen, zu schauen, sondern die Entwicklung unserer Gesellschaft auch mit weiteren Indikatoren für sozialen und ökologischen Fortschritt zu messen.

Einer der Initiatoren der Enquetekommission, der grüne Publizist und Ökonom Reinhard Loske, befürwortet eine „Doppelstrategie aus ökologischer Modernisierung und der Reduzierung von Wachstumszwängen“. Damit markiert er eine Gegenposition zu Fücks.

In diese Lage hinein erscheint nun dessen Buch. Was ist von den drei wichtigsten Argumenten zu halten? Erstens: Entkopplung. Ja, das kann funktionieren. Beispielsweise ist der Ausstoß von klimaschädlichem Kohlendioxid in Deutschland und Europa in den vergangenen 20 Jahren erheblich gesunken, während die Wirtschaftsleistung stieg. Es scheint also möglich, das System weiterzubetreiben und gleichzeitig die schädlichen Auswirkungen zu minimieren. Wenn dies beim CO2 gelingt, kann es auch in anderen Bereichen klappen – bei der Verschmutzung der Meere oder beim Flächenverbrauch.

Loske sieht das anders. Er argumentiert: Deutschland und Europa könnten nur deshalb so schön klimafreundlich sein, weil sie einen großen Teil der dreckigen Produktion inzwischen in andere Teile der Welt ausgelagert hätten. Da ist etwas dran. Dann allerdings könnte die Konsequenz gegen Loske und mit Fücks auch heißen, weiter auf den begonnenen Prozess der weltweiten Ökologisierung zu setzen. Die Weltklimaverhandlungen stecken zwar in einer Sackgasse, trotzdem ist offen, ob dieser Versuch nicht doch noch gelingt.

Falls man aber davon ausgeht, dass eine globale Ökologiepolitik vorläufig keine Chance hat – welchen Sinn hätte es dann, einseitig auf Wirtschaftswachstum in Deutschland und Europa zu verzichten? Im globalen Maßstab wäre das wirkungslos. Schließlich sinkt der europäische Anteil an der Weltwirtschaftsleistung, während der der Schwellenländer steigt. Einseitige Energie- und CO2-Reduzierungen hierzulande fallen damit im Verhältnis immer weniger ins Gewicht. Das Weltklima lässt sich so nicht retten. Höchstens könnten wir eine regional begrenzte Verbesserung der ökologischen Lebensbedingungen bei uns zu Hause erreichen. Motto: Eine vierte oder fünfte Richtungsfahrspur der Autobahn wird auf keinen Fall mehr gebaut. Hauptsache, weniger Abgase. Sollen die Leute doch sehen, wo sie langfahren.

Ließe sich eine solche Politik durchsetzen? In Ballungszentren wie dem Ruhrgebiet, Hamburg, Frankfurt am Main, Stuttgart, München oder Berlin, wo die Bevölkerungszahl möglicherweise auch noch steigt? Die Gefahr, dass sich solche Entscheidungen gegen eine starke Gruppe der Bevölkerung richten und damit undemokratisch werden, ist nicht von der Hand zu weisen. Die SUV-Familien vom Prenzlauer Berg wollen auch in einer halben Stunde draußen am See sein. Dazu fehlt ihnen nur die Verlängerung der Stadtautobahn.

Hier kommt zudem Fücks’ zweites Argument zum Tragen. Seit 200 Jahren sind die Menschen in den Industrienationen gewöhnt, ständig neugierig, kreativ und erfindungsreich zu sein – nicht nur als Hamster im Rad der kapitalistischen Profitmaschine, sondern auch aus eigenem Antrieb. In diesem Prozess steigen Produktivität, Produktion, Wohlstand und Lebensstandard, Letzterer zumindest für viele. Diesen Fortschritts- und Expansionsprozess kann man nicht einfach abschalten. Wer sollte so etwas dekretieren?

Drittes Argument: Fücks schreibt, dass Europa sich anstrengen solle, auch in Zukunft jährlich mehr Güter auf den Weltmärkten zu verkaufen. Sonst ließen sich weder der private Lebensstandard, die Qualität öffentlicher Dienstleistungen und das Niveau der sozialen Sicherung in Maßen ausbauen noch Europas Einfluss in der Welt erhalten. Wer nicht wächst, wird ärmer und schwächer? Unter der Maßgabe, dass die großen Staaten Asiens, Afrikas und Südamerikas noch lange nicht das Ende ihres eigenen Wachstums erreicht haben, stimmt das wohl. Um an dieser Stelle aber nicht der alten Industriepolitik das Wort reden zu müssen, empfiehlt der Böll-Vorstand eine ökologisch unbedenkliche Produktpalette, die Deutschland exportieren solle: Kunststoffe auf Pflanzenbasis, Kraftwerke, die die künstliche Fotosynthese nutzen, ressourcenschonende Fahrzeuge und Verkehrssysteme.

Unter dem Strich ist das nicht revolutionär, sondern eine Kernidee des sozialökologischen Programms „Green New Deal“, das die Grünen schon seit Jahren propagieren. Auch die vermeintlichen Unterschiede zwischen Exponenten wie Fücks und Loske erscheinen etwas künstlich. Beide betonen neben „ökologischer Modernisierung“ die Notwendigkeit, „Wachstumszwänge“ zu reduzieren. Ein Beispiel: Fällt die Staatsverschuldung geringer aus, muss die Wirtschaft nicht krampfhaft expandieren, um die Zinsen zu finanzieren.

Die größte Differenz zwischen beiden besteht im Verständnis von Innovation. Während Fücks eher technische Neuerungen meint, hofft Loske mehr auf soziale Modernisierung. Für ihn spielen neue, langsamere, bedächtigere Lebensstile eine größere Rolle: Wenn mehrere Familien ein Auto teilen, werden vielleicht weniger verkauft. Neue gesellschaftlichen Bedürfnisse können so auch zu einer ökonomischen Mäßigung führen.

Und nun? Fücks oder Loske? Wahrscheinlich wird es eine Mischung sein. Carsharing, aber auch neue Autobahnen in den Ballungsräumen.

Ralf Fücks: „Intelligent Wachsen“. Hanser Verlag, München 2013. 362 Seiten, 22,90 Euro