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Archiv-Artikel

„Die sind ideologisch besessen“

Elf Neonazis stehen in Potsdam wegen versuchten Mordes an einem 25-Jährigen vor Gericht. Ihnen drohen lange Haftstrafen. Dennoch zeigen sich sechs junge Angeklagte beim Prozess ohne Angst

von FELIX LEE

Eigentlich ist in der Sache alles klar. Bereits vor Prozessbeginn hatte die Angeklagte Sandra P. zugegeben, dass sie in der Nacht zum 3. Juli 2005 dem 25-jährigen Tamás aus der Potsdamer linken Szene eine halb gefüllte Bierflasche auf dem Kopf zerschmettert hatte. Und auch die anderen vier Mitangeklagten zwischen 19 und 21 Jahren verleugnen nicht, dass auf den bereits am Boden liegenden Tamás brutal eingetreten wurde. Auch sein Begleiter wurde krankenhausreif geschlagen. Von Angst war in den Gesichtern der Angeklagten beim zweiten Verhandlungstag im Potsdamer Landgericht gestern dennoch keine Spur. Obwohl ihnen wegen politisch versuchten Mordes zwischen 3 und 15 Jahren Haft drohen, betraten sie den Saal mit einem Lächeln.

„Sie hätten wissen müssen, dass sie sich mit dieser Aktion eine Menge Ärger einholen werden“, bewertete ein anwesender Prozessbeobachter vom Antifaschistischen Pressearchiv (Apabiz) den zufriedenen Ausdruck der Angeklagten. Wer aus missionarischen Gründen handelt, kenne keine Schuld, so der Apabiz-Mitarbeiter: „Die sind ideologisch einfach besessen.“

Vielleicht war den Angeklagten bei ihrem zweiten Prozesstag gestern nicht klar, was sie erwartet. Denn anders als die weiteren sechs Verdächtigen, die seit ihrer Verhaftung in der Tatnacht in Untersuchungshaft sitzen, durften sie nach Hause. Nur die 18-jährige Sandra sitzt seitdem ebenfalls in Haft. Sie hatte zuvor bereits eine Bewährungsstrafe zu verbüßen. Die fünf Angeklagte sind unter 21 Jahre und fallen als „Heranwachsende“ unter das Jugendstrafrecht. Heute wird das Parallelverfahren der Angeklagten zwischen 22 und 32 Jahren fortgesetzt.

Allen elf wirft die Staatsanwaltschaft vor, dass sie in der Nacht zum 3. Juli 2005 den 25-jährigen Tamás und seinen Begleiter in der Friedrich-Ebert-Straße in der Nähe des Hauptbahnhofs brutal zusammengeschlagen haben: „Versuchter Mord und schwere Körperverletzung“ heißt es in ihrer Anklageschrift. Dem Potsdamer Landgericht ging die Anklage nicht weit genug. Sie prüfe zusätzlich, ob der Mordversuch nicht nur aus „niederen Beweggründen“ begangen wurde, sondern politisch motiviert war.

Wer von ihnen war es, der aus der Straßenbahn heraus Tamás auf der Straße erkannt hatte, die Notbremsen zog und dann rief „Raus, raus!“? Wer hatte nach dem Aussteigen gerufen „Scheiß Zecke, ich mach dich platt“? Wer hatte sich am Schlagen und Treten beteiligt? Oder waren es gar alle? Wer war es, der dem Freund von Tamás mit einer abgebrochenen Flasche einen „Stoß in Halsnähe in das Gesicht versetzt“ hatte, sodass er mit lebensgefährlichen Verletzungen ins Krankenhaus gebracht werden musste?

Der Verhandlungsbeginn verzögerte sich, weil einer der Anwälte mehrfach versuchte, das Verfahren in die Länge zu ziehen. Er wollte die Öffentlichkeit vom Prozess ausschließen und begründete dies mit dem Persönlichkeitsschutz der Heranwachsenden. Der Antrag wurde von der Richterin abgewiesen, die Verhandlung musste zur Beratung aber abgebrochen werden.

Bis zum frühen Nachmittag antwortete von den fünf nur der Mitangeklagte Thomas P. Es könne sein, dass seine Bierflasche die Tatwaffe war. Er könne sich aber nicht mehr erinnern, wer ihm die Flasche abgenommen hat. Bei der anschließenden Verhaftung habe er nur deshalb einen Stein in der Tasche gehabt, weil er ihn mit nach Hause nehmen wollte. Ein Steinesammler sei er aber nicht. Und wer von den Vermummten mitten im Hochsommer Handschuhe anzog, konnte er ebenfalls nicht erkennen. Er habe nur zwei bis drei Minuten am Tatort gestanden und sei dann weggegangen. Er selbst sei an der Tat nicht beteiligt gewesen. Zur Frage der rechtsextremen Gesinnung wollte er sich nicht äußern.

Unabhängig davon, wie der Prozess weiter verläuft – fest steht: Bei dem Übergriff handelte es sich um eine der brutalsten rechtsextremen Taten im vergangenen Jahr. An jenem lauen Sommerabend hatten die Angeklagten zuvor im nahe gelegenen Park gegrillt und gefeiert. Die Feier hatte eine große Zahl der rechten Szene aus ganz Berlin und Brandenburg angelockt. Insbesondere seitdem in Berlin die beiden bis dato aktivsten rechtsextremen Kameradschaften Tor und Baso im Frühjahr verboten wurden, hatten sich viele Aktivitäten der Neonazis nach Potsdam verlagert. In den Sommermonaten war fast wöchentlich von gewaltsamen Übergriffen von Neonazis zu hören, insbesondere auf Angehörige der Potsdamer linken Szene.

Die rechte Szene aus Berlin und Potsdam scheint an dem Geschehen das Interesse verloren zu haben, zumindest am Verfahren gegen die fünf Heranwachsenden. Während sich beim Prozessauftakt der sechs Angeklagten Mitte Dezember noch 50 Neonazis vor den Eingang des Gerichtsgebäudes drängten, waren bei der Verhandlung gestern gerade einmal der ehemalige Baso-Gründer und Obernazi René Bethage und zwei Begleiter anwesend.

Das könnte am heutigen Verhandlungstag schon wieder anders aussehen: Es stehen die sechs älteren vor den Anklägern. Unter ihren Verteidigern befindet sich der in der rechten Szene bekannte Anwalt Wolfgang Nahrat, einst Ikone der ebenfalls inzwischen verbotenen neonazistischen Wiking-Jugend. Seinen Auftritt wollen sich viele Neonazis in Berlin und Potsdam nicht entgehen lassen.