: Anarchy in Austria
Der Fall des Erik O. – ein deutscher Gastarbeiter und großer Künstler in Österreich
Der Wiener Standard hatte geladen. Zum Weihnachtsfest für Freunde, Bekannte und Angestellte. Der Ort der Feierlichkeit gehört zu den vornehmsten Adressen Wiens. In der Herrengasse im ersten Wiener Gemeindebezirk in der Nähe der Hofburg hat die Tageszeitung Der Standard ihr Domizil in einem der vielen Palais, die die Gegend am Heldenplatz so edel und repräsentativ machen. In den verschiedenfarbenen Salons mit großen Glaslüstern wurde an diesem Vorweihnachtsabend Wein gereicht, und zwar mehr als manchen Anwesenden gut tat.
Erik O., ein deutscher Gastarbeiter, der beim Standard als Aushilfe Unterschlupf gefunden hatte, war einer dieser Anwesenden. Erik O. war einmal ein trinkfreudiger und vor allem trinkfester Mensch gewesen, der in der Lage war, stracks und stramm, aber aufrecht wie eine Eins am Tisch einzuschlafen, ohne dass jemand etwas bemerkte. Aber diese Zeiten waren vorbei. Ein Jahr lang war Erik O. clean. Doch dann kamen das Weihnachtsfest und freie Getränkewahl. Vollkommen aus dem Training erwischte Erik O. zu viel vom Grünen Veltliner. Getrieben von der typischen Sorge eines Trinkers, womöglich plötzlich vom Nachschub abgeschnitten zu sein, organisierte sich Erik O. eine Flasche und begab sich auf die Tanzfläche, wo seine Kollegen bereits wilde Verrenkungen vollführten.
Was dann geschah, und vor allem warum, lässt sich so genau nicht verifizieren. Auch Erik O. selbst ist sich über seine Motivlage nicht im Klaren. Auslöser jedenfalls ist „Anarchy in the UK“ von den Sex Pistols, die irgendjemand in den CD-Player schmeißt und damit bei Erik O. Ungeahntes auslöst. Beflügelt von der Wucht dieses Songs und offensichtlich die Wiederkehr des „Antichristen“ vor Augen, schmeißt Erik O. die Weinflasche mit voller Wucht in den Kronleuchter. Ein veltlinergetränkter Scherbenregen geht auf die Tanzenden nieder.
Die Sex Pistols aber heizen Erik O., der als Einziger den Song zu begreifen und ernst zu nehmen scheint, weiter ein. Er hechtet zum tiefhängenden Kronleuchter und schwingt unter Gebrüll wie Tarzan hin und her, bevor der edle Lichtspender aus der Halterung bricht und Erik O. unter sich begräbt. Dessen Rücken ist wie ein Igel mit Glasscherben gespickt, aber er merkt nichts. Erik O. rappelt sich hoch und gibt dem Kronleuchter verärgert über dessen Nachgeben mit den Füßen den verdienten Rest. Fasziniert steht die Belegschaft des Standard herum und beobachtet fassungslos den Mann, der drauf und dran ist, mit „Anarchy in Austria“ den Sex-Pistols-Song nicht nur neu zu interpretieren, sondern ihn auch praktisch anzuwenden. Allerdings nur so lange, bis der Portier herbeieilt und dem wilden Treiben Erik O.s ein Ende setzt. Mit vereinten Kräften wird er hinausgeworfen.
Zwar hatte Erik O. noch Glück im Unglück, weil der von ihm malträtierte Kronleuchter der einzige war, der nicht unter Denkmalschutz stand, aber auch so erwartet Erik O., dem fristlos gekündigt wurde, eine saftige Rechnung. Der Schaden wird auf bis zu 5.000 Euro geschätzt. Erik O. hat jedoch mit seinem einzigartigen und dramatischen Auftritt seinen Kollegen nicht nur einen unvergesslichen Abend beschert, er hat auch mit großem persönlichem Einsatz bewiesen, dass der rebellische Geist, der sich 1976 wie ein Steppenbrand ausbreitete, immer noch nicht ganz in die Flasche zurückgestopft werden konnte.
Zwar ist der fulminante Auftritt Erik O.s dem zu erhöhter Risikobereitschaft führenden Konsum alkoholischer Getränke geschuldet, aber nichtsdestotrotz steht seine Aktion in einer großen künstlerischen Tradition. Und welche künstlerische Großtat kommt schon ohne Alkohol zustande? Auch der berühmte französische Schriftsteller Philippe Soupault hatte der Legende nach einen ähnlichen Auftritt während eines Festbanketts zu Ehren Saint-Pol-Raux’, welches laut Breton „den definitiven Bruch des Surrealismus mit allen konformistischen Elementen der Epoche markiert“. Philippe Soupault schwang bestimmt nicht nüchtern am Kronleuchter hängend über die Festtafel und stieß mit dem Fuß Geschirr und Flaschen um, während um ihn herum eine muntere Rauferei zwischen Surrealisten und patriotischen Chauvinisten im Gange war. Insofern ist Erik O.s Tat vom Standpunkt der Kunst aus gesehen mindestens ebenso altehrwürdig wie das Palais, in dem die Weihnachtsfeier des Standard stattgefunden hat.
Erik O. hat eine vergessene Tradition wiederbelebt, und dafür sollte man ihn loben und nicht strafen. Denn schließlich hat sich durch die Tat von Erik O. im biederen und beschaulichen Wien einmal so etwas wie ein Hauch von Leben bemerkbar gemacht. Auf dass er und Philippe Soupault noch viele kronleuchterschwingende Nachahmer finden mögen. KLAUS BITTERMANN