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Archiv-Artikel

Risikofaktor XX-Chromosom KOMMENTAR VON SVEN HANSEN

Millionen weibliche Föten sind in Indien in den letzten zwanzig Jahren abgetrieben worden. Dies geht aus einer Studie der britischen Zeitschrift The Lancet hervor. Das hat unterschiedliche Gründe, die in Indien in fataler Weise zusammenspielen: eine überkommene Tradition, der medizinische Fortschritt und das rasante wirtschaftliche Wachstum des Landes.

Der Tradition nach werden in Indien die Jungen gegenüber Mädchen bevorzugt, ganz unabhängig von der Religion der Eltern. So kann die Familie eines Mannes von der Familie seiner Ehefrau eine saftige Mitgift erwarten. Mehrere Töchter im heiratsfähigen Alter können eine Familie an den Rand des Ruins führen – zumal das rasante Wirtschaftswachstum dazu geführt hat, dass solche Mitgiftforderungen in Indien in den letzten Jahren ins Unermessliche gestiegen sind.

Erst die moderne Medizintechnik hat jedoch dazu geführt, dass das Geschlecht heute schon vor der Geburt bestimmt und damit bereits in diesem Stadium eine Selektion vorgenommen werden kann. Das erklärt, warum gerade in der verhältnismäßig wohlhabenden und gebildeten Mittelschicht die Praxis der Abtreibung weiblicher Föten weiter verbreitet ist als in den ärmsten Schichten: Ein armer Bauer kann sich die teuren Ultraschalldiagnosen schlichtweg nicht leisten.

Bisher versuchte die indische Regierung, dem Trend mit Verboten gegenzusteuern: Mitgift wie pränatale Geschlechtsbestimmung sind längst untersagt. Genutzt hat das wenig, sondern allenfalls einigen Medizinern zu einem lukrativen, illegalen Nebenverdienst verholfen.

Dass es auch anders geht, zeigt der indische Bundesstaat Kerala: Dort kommen sogar mehr Mädchen als Jungen zur Welt. In diesem südlichen, traditionell kommunistisch regierten Land wird besonders viel Wert auf Aufklärung, Bildung und Förderung der Frauen gelegt. Kerala ist zwar ärmer, hat aber trotzdem eine viel niedrigere Analphabetenrate als die beiden reichsten indischen Agrarstaaten Haryana und Punjab im Norden des Landes. Zugleich ist Keralas Geburtenrate niedriger. Nicht allein mit Verboten, sondern vor allem mit Aufklärung ist ein solcher Kulturwandel zu erringen.