piwik no script img

Archiv-Artikel

Hilfe beim ersten Alarmsignal

VON CHRISTIANE MARTIN

Mandy Christin K. steht vor Gericht. Die Anklageschrift liest sich gruselig. Die 27-jährige Mutter soll ihrer kleinen Tochter angeblich jedwede Fürsorge verweigert haben, bis diese qualvoll starb. Die Leiche wurde zerstückelt auf dem Balkon der Mutter gefunden, die sich nun vor dem Düsseldorfer Landgericht verantworten muss.

Immer wieder schrecken Fälle, in denen Kinder Opfer ihrer Eltern werden, die Öffentlichkeit auf. Sie sind aber nur die traurige Spitze des Eisberges. Vielfach unbemerkt wird in Deutschland Kindern regelmäßig körperliche, seelische oder sexuelle Gewalt angetan. Schreit ein Baby Stunden lang, bockt der Zweijährige grundlos mitten auf der Straße oder schreit die Pubertierende respektlos ihre Mutter an, sind das für die meisten Eltern Alltagsszenen, die sie erzieherisch meistern können. Manch Vater oder Mutter, vor allem wenn sie sich in schwierigen Lebensumständen befinden, ist mit solchen Situationen aber überfordert. Und dann rutscht schon mal die Hand aus.

Ein Projekt in Düsseldorf will dem vorbeugen und bietet Eltern und gefährdeten Kindern Hilfe von der Geburt an. In Zusammenarbeit mit den Hebammen und Kinderkrankenschwestern auf Geburtsstationen werden Jugendamt und Gesundheitsamt der Stadt auf Risikofamilien bereits aufmerksam, bevor etwas passiert. So können sie diese rechtzeitig in das bestehende Hilfe- und Beratungssystem übernehmen. „Zurzeit verursacht das keine Zusatzkosten“, sagt Wilfried Kratzsch, Oberarzt im Kinderneurologischen Zentrum der Städtischen Kliniken Düsseldorf und Mitverantwortlicher des Projekts. „Wir greifen auf Ressourcen zurück und verknüpfen diese effektiv miteinander.“

Und das geht so: Ein Katalog von Risikofaktoren, der in jahrelanger wissenschaftlicher Arbeit aufgestellt wurde, hilft den Hebammen und Krankenschwestern, im Kontakt mit den Müttern erste Alarmsignale aufzunehmen. „Ein wichtiger Indikator ist oft das Alter der Mutter. Ist diese sehr jung, unter 21 Jahren, und dann vielleicht auch noch starke Raucherin, wird genauer hingeschaut“, erläutert Kratzsch. Stelle sich dann etwa heraus, dass sie die Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen nicht regelmäßig besucht hat und vielleicht allein erziehend ist, werde er benachrichtigt und versuche dann ein Gespräch mit der betreffenden Mutter zu führen.

Der 64-Jährige baut dabei auf den Vertrauensvorschuss, dem die Mütter ihm als Kinderarzt entgegenbringen. Im Verlauf des Gesprächs komme dann meist sehr schnell deren ganze Lebensgeschichte aufs Tapet. „Viele von ihnen haben in ihrer eigenen Kindheit Vernachlässigung und Gewalt erfahren und befinden sich heute in schwierigen Lebenssituationen“, weiß Kratzsch aus seinem Arbeitsalltag. Sind die Mütter wirklich hilfebedürftig und geben sie ihr Einverständnis, werden sie in das Projekt „Zukunft für Kinder in Düsseldorf“ aufgenommen.

Eine Clearingstelle nimmt sich dann der gemeldeten Fälle an. Hier arbeiten Jugendamt und Gesundheitsamt Hand in Hand. Eine Sozialarbeiterin und ein Kinderarzt sind die ersten Ansprechpartner. Noch im Krankenhaus oder in den ersten Tagen zu Hause besuchen sie die Mütter und ihre Neugeborenen und stellen einen Hilfeplan auf. Da werden dann psychosoziale Gutachten erstellt, Förderkonzepte entwickelt, ein Bindungstraining angeboten, oft aber auch so praktische Probleme gelöst wie die Suche einer geeigneten Wohnung oder einer Kinderbetreuung.

„Wichtig ist, dass das Ganze koordiniert stattfindet“, konstatiert auch Eberhard Motzkau, Leiter der Kinderschutzambulanz am Evangelischen Krankenhaus Düsseldorf und ebenfalls Projektbeteiligter. Es gebe bisher Familien, in denen bis zu 15 verschiedene Helfer tätig sind. „Das ist eine Belastung für die Familie und nicht immer sehr effektiv“, sagt der Kinderpsychiater. Ein wesentliches Ziel des Projektes sei deshalb die Bündelung der verschiedenen Hilfsangebote.

„Neu ist dabei nicht das, was angeboten wird, sondern der Zeitpunkt, zu dem es angeboten wird“, so Motzkau. Er sieht in seiner täglichen Arbeit, was passiert, wenn Kindern aus Risikofamilien nicht präventiv geholfen wird. Seit 1988 betreut die Kinderschutzambulanz jedes Jahr rund 300 traumatisierte Kinder. „Gewalt spielt meist eine Rolle. Dazu gehört aber auch die Vernachlässigung, das Nicht-gesehen-werden, Nicht-geschätzt-werden“, sagt Motzkau. Er erwartet, dass durch das Projekt „Zukunft für Kinder in Düsseldorf“ zunächst ein gesteigerter Hilfebedarf generiert wird. „Aber das wird sich später ausgleichen. Wir werden dann weniger auffällige Kinder in den Kindergärten und Grundschulen haben“, hofft er.

Rechtzeitig auf Risikokinder aufmerksam zu werden, ist ein Ziel, das sich nun auch die schwarz-gelbe Landesregierung gesteckt hat. Ende 2005 äußerte sich Familienminister Armin Laschet (CDU) im WDR zu diesem Thema: „Wir wollen die Vorsorgeuntersuchungen zur Pflicht machen und das zur Not auch mit Ordnungsmitteln durchsetzen“, kündigte der Minister an.

„Wir begrüßen es sehr, dass auch die Politik endlich klar Kindeswohl über Elternrecht stellen möchte“, sagt dazu Thomas Fischbach vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). Es sei dem BVKJ jedoch wichtig zu betonen, dass Kindesmisshandlungen nicht allein durch die Pflicht zur Vorsorgeuntersuchung vermieden werden können. Hierzu bedürfe es auch verbesserter Hilfestrukturen wie sie etwa das Düsseldorfer Projekt bietet. Würden Eltern die Hilfen nicht annehmen, müsse man im Interesse des Kindes staatlichen Druck ausüben. Das könne eine gesetzlich verordnete Pflicht zur Teilnahme am kostenlosen Früherkennungsprogramm sein, aber auch eine Impfpflicht.

Noch aber ist es bei der Ankündigung eines solchen Vorstoßes geblieben. Von gesetzlich verpflichtenden Vorsorgeuntersuchungen ist man auch in NRW noch weit entfernt. Umso höher ist die Bedeutung des Düsseldorfer Präventionsprojektes. Motzkau, Kratzsch und ihre Kollegen werden weiterhin mit viel Sensibilität Mütter und Kinder in Risikosituationen aufspüren und ihnen Hilfe angedeihen lassen. Ohne Mehrkosten, aber mit großem persönlichen Engagement.