Der Kopf hinter Merkel

Wer die Republik von Angela Merkel (CDU) verstehen möchte, sollte sich dringend mit Søren Kierkegaard vertraut machen. Warum der dänische Philosoph das Lebensgefühl in Merkelland bestimmen wird – und wie man ihm entkommt

VON MICHAEL RUTSCHKY

Er war ein Einzelgänger, der sich fern hielt von den trivialen Meinungen und Überzeugungen seiner Mitbürger; der die Institutionen, insbesondere die Kirche, der sie blindlings anhingen, auf das entschiedenste kritisierte; der auf ein Leben mit Frau und Kindern verzichtete zugunsten seiner philosophischen Schriftstellerei, deren unbeugsamer Eigensinn ihn zu einem der größten Denker Europas machte und ihm zugleich die Universität – noch so eine korrupte Institution – verschloss, keine Professorenkarriere für Søren Kierkegaard. Er starb, wie erschöpft von seiner unermüdlich radikalen Gedankenarbeit, an einer rätselhaften Krankheit, über deren Namen die Experten immer noch streiten.

Die Porträtskizze ist alles andere als unzutreffend. Sie unterschlägt bloß, dass Kierkegaard zu den Erfindern dieses Typus von Denkern gehörte, der sich nonkonformistisch von seiner Zeit und seinen Mitbürgern unterscheidet, um zu wesentlichen Wahrheiten, die jenen verschlossen sind, vorzudringen (ein Typus im Übrigen, der sich letztlich bei der Ikonografie des Heilands bedient – aber das führt ab). Neben Kierkegaard ist Nietzsche die zweite Größe aus dem 19. Jahrhundert, die ihr Leben der Ausarbeitung dieses Typus gewidmet hat, einschließlich rätselhafter Todeskrankheit.

Missglücktes Fünfziger-Revival

Seitdem besitzen wir das literarische Genre der „unzeitgemäßen Betrachtungen“, das unterdessen bis hinunter zu Leserbriefschreibern grassiert. Während Nietzsches Ideen seit den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts wieder ein heftiges Nachleben feiern, steht so etwas für Kierkegaard seit langem aus. Zwar versuchten ihn in den Fünfzigern Gymnasiallehrer, die auf der Höhe der Zeit waren, ihren intellektuell aufgekratzten Schülern nahe zu bringen, doch hielten die sich dann doch lieber an Albert Camus, „Der Mythos von Sisyphos“ (deutsch 1948): „Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord.“ Ja, nicht wahr, das geht ran. Schon gar bei Sechzehnjährigen.

Das Problem mit Kierkegaard ist, dass seine Gedanken auf das entschlossenste christliche sein wollen. Sie sind eng mit ihrem Milieu verwachsen, dem protestantischen Kopenhagen des Biedermeier. Die christliche Orientierung erklärt auch Kierkegaards Aktualisierbarkeit in den Fünfzigerjahren: Eine Zeit lang spielte die junge Bundesrepublik mit dem Gedanken, das Christentum als Basisideologie zu adaptieren; seit 1957 regierte die Christlich Demokratische Union mit absoluter Mehrheit.

Kierkegaards Ideen sind grundsätzlich protestantisch; nicht fähig zum Anschluss an das neokatholische Frömmeln, das gegenwärtig das Feuilleton, anfallsweise auch die jugendlichen Massen durchherrscht. Die Kirche, die pietistisch geprägte Kirche des dänischen Biedermeier, kritisierte er als Inbegriff der Entfremdung von einem wahrhaft christlichen Leben, und in seinen letzten Jahren attackierte er mit genussvoller Schärfe die repräsentativsten Kirchenmänner persönlich – man darf an Karl Kraus denken, wie er im Namen der Sprache und der Wahrheit die Geistesrepräsentanten seiner Zeit mit Hohn und Spott überschüttete.

Kierkegaard gilt als Erfinder des Existenzialismus, der Doktrin, dass die wahrhaft gelebte Subjektivität philosophisch alle noch so ausgetüftelten Begriffssysteme übersteigt. Das kann man – wenn Sie mir diesen Bildungsschwall erlauben – als Fortsetzung und Radikalisierung des Pietismus lesen. Die Pietisten erklärten zum höchsten Gut das persönliche Jesus-Erlebnis, das durch keinerlei rituelle Veranstaltung ersetzt werden könne. Dabei zeichnet sich dies ekstatische Erlebnis natürlich durch außerordentliche Flüchtigkeit aus; einmal schlecht geschlafen, und schon hat dich Gott verlassen. Letzten Endes führt die pietistische Gedankenbewegung zu einer sich fortlaufend verfeinernden Ungewissheit (statt zu Gewissheit).

Dem Besitzer dieser Ungewissheit fällt es leicht, seine Mitbürger als Heuchler und Bofkes zu durchschauen. Insbesondere dann, wenn sie das Vorverständnis teilen. Zwar begeisterten sich Kopenhagens Bürger für die Literatur Hans Christian Andersens und die Aufführungen in Johann Ludvig Heibergs Königlichem Theater, zugleich aber für die theologischen Kniffeleien, in denen Kierkegaard brillierte; sein Vater, der es vom armen Bauernsohn zum reichen Kaufmann gebracht hatte, erlitt immer wieder schwere Glaubenserschütterungen, ebenso sein älterer Bruder Peter Christian, 20 Jahre lang Bischof von Aalborg, ein Amt, das er wegen Glaubensschwäche aufgab.

Pietistisches Dandytum

Kierkegaard gelang es, die Figur des religiösen Virtuosen mit der des stadtbekannten Dandys zu verschmelzen. Sein Vater hatte ihm ein ordentliches Vermögen hinterlassen, was ihm die Schmach des Geldverdienens ersparte. Sein extravaganter Verbrauch von Büchern, Hüten, feinen Speisen und Weinen und Zigarren, Spazierstöcken, Seidenschals, Handschuhen, Parfüms war notorisch; ganz Kopenhagen erkannte ihn an seinem rotkohlfarbenen, später seinem zitronengelben Mantel. Untrennbar verschmolzen diese Konsumzeichen mit seiner intellektuellen Virtuosität.

Ebenso seine Verlobung mit Regine Olsen, die gern parallel zu Kafkas unglücklicher Liaison mit Felice Bauer gelesen wird, überhaupt im Kanon tragisch unerfüllter Liebesgeschichten weit oben rangiert.

Was genau Kierkegaard von der Heirat abhielt, anlässlich dieser Frage darf man in denselben Tiefsinn verfallen wie über seinen Schriften; womöglich genügten ihm die Ekstasen des Verliebtseins vollkommen, und jeder weitere Schritt hätte ihn überfordert. Vielleicht wollte er während der ganzen Zeit der Verlobung nur „Das Tagebuch des Verführers“ schreiben, das einen Teil seines berühmtesten Buches bildet, „Entweder/Oder. Ein Lebensfragment, herausgegeben von Victor Eremita“ (1843); der Erzähler schwelgt in der Brillanz seiner Taktiken, mittels deren er das Mädchen Cordelia gewinnt, eine Veranstaltung, die im Leser Peinlichkeitsgefühle erweckt. Kierkegaard bewunderte Don Juan als literarische und Opernfigur – dabei muss man bedenken, dass Don Juan niemals mit den Frauen in Geschlechtsverkehr tritt, die er erotisch so kunstvoll aufheizt.

Es wird mir misslingen, von Kierkegaards Schriften eine angemessene Skizze zu zeichnen. Sie stehen in der Tradition des Schweren Grübelns (in die ja auch Walter Benjamin und Adorno gehören); womöglich ist Kierkegaard ein Stifter dieser Tradition.

Die Schriften treten dem Leser mit einer Unmenge theatralischer Gesten entgegen. Man kennt die Kunstgriffe aus der literarischen Romantik, wenn nicht schon aus Lawrence Sternes „Tristram Shandy“. Kierkegaard legte sich einen Hausschatz an Pseudonymen zu, die untereinander beziehungsreich vernetzt waren, „Philosophische Brocken oder Ein Bisschen Philosophie. Von Johannes Climacus. Herausgegeben von S. Kierkegaard“ (1844), „Die Krankheit zum Tode. Eine christliche psychologische Entwicklung zur Erbauung und Erweckung von Anti-Climacus. Herausgegeben von S. Kierkegaard“ (1849), und so fort. Das ironische Gestikulieren setzt sich bis tief hinein in die Texte fort, macht oft ihre Substanz aus. Wen diese Theatralik abstößt, dem kann ich’s nicht verdenken, „mein Gott, ist das beziehungsreich, / Ich glaub, ich übergeb mich gleich“ (Robert Gernhardt).

Ich will aber gestehen, dass ich kürzlich „Die Krankheit zum Tode“ mit Aufmerksamkeit und Gewinn richtig durchstudiert habe. „Das Selbst will verzweifelt die ganze Befriedigung genießen, sich zu sich selbst zu machen, sich selbst zu entwickeln, es selbst zu sein … Und doch ist es im Grunde ein Rätsel, was es unter sich selbst versteht; gerade in dem Augenblick, wo es am allernächsten daran zu sein scheint, das Gebäude fertig zu haben, kann es das ganze willkürlich in nichts auflösen.“ Lecker, stimmt’s?

Kierkegaard, der sich nie fotografieren ließ, alterte früh. Der schöne Jüngling mit den großen Augen und den weichen Locken, den Zeichnungen seines Vetters Niels Christian Kierkegaard überliefern, verwandelte sich in ein bucklicht Männlein mit Fischmaul, wie es heißt, das ständig ein überlegen-satirisches Grinsen zierte. Vielleicht müsste man seine Gestalt noch einmal ganz anders angehen, vielleicht gehört er in eine Galerie, die den Philosophen, den Schriftsteller, den intellektuellen Virtuosen verschiedener Zeiten als Fatzke zeigt. Eine strahlende, alles durchdringende Intelligenz, die zugleich bis zur Erschöpfung in sich selbst verliebt ist und das Publikum, das nicht anders kann als bewundern, dafür verachtet, ein Publikum, durch das der Fatzke tagtäglich stolziert, um die öffentliche Aufmerksamkeit einzutreiben, zuerst im rotkohlfarbenen, dann im zitronengelben Mantel. Die Phänomenologie des Intellektuellen als Fatzke, das wäre doch mal was.