: Damaskus Transfer
KARAWANE Als Autor der Großstadt ist John Dos Passos ein Klassiker. Nun kann man ihn als reisenden Sinnsucher entdecken
VON JENS UTHOFF
Wanderte über eine Anhöhe und lag auf einem breiten Stein in der Sonne und las Martial. Ich bin noch nie so glücklich gewesen.“ Der Reisende befindet sich in einem Karawanserei, notiert seine Gedanken. Bis es weitergeht. Auf „schlecht gelaunten“, hungrigen Kamelen zieht der Tross durch Steppe und Wüste Richtung Damaskus. Ein 37-tägiger Trip. Der Reisende ist nervös, die gerade von den Franzosen eingenommene Stadt will und will nicht näher rücken.
Die Damaskusreise, die hier als mal quälend, mal fast als Epiphanie beschrieben wird, bildet den letzten Teil des Reiseromans „Orient-Express“ von John Dos Passos. Es ist die deutsche Erstveröffentlichung dieses Frühwerks des großen US-amerikanischen Autors, der mit „Manhattan Transfer“ (1925) einen der ersten großen Montageromane des 20. Jahrhunderts geschrieben hat, später mit der Trilogie „USA“ reüssierte und etwa dreißig Romane veröffentlichte.
„Orient-Express“ zeigt den als Großstadtschreiber bekannt gewordenen Dos Passos, zum Zeitpunkt der Reise ganze 25 Jahre alt, von einer anderen Seite – der des Sinnsuchers. Der Text ist erzählerisch und sprachlich ein Genuss, etwa wegen der zahlreichen Neologismen, die nie gestelzt wirken.
Im Sommer 1921 bricht Dos Passos nach Konstantinopel beziehungsweise Istanbul auf. Von Venedig aus reist er mit dem Zug nach Istanbul, dann mit dem Schiff nach Trabzon. Über Batim, Tiflis und durch das heutige Armenien begibt er sich nach Teheran. Dos Passos bereist dann das historische Babylon, ehe jene eindrucksvolle Reise nach Damaskus folgt.
Auf der ersten Etappe begleiten die Eindrücke des Griechisch-Türkischen Kriegs nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs den Reisenden. Der andauernde Krieg zwischen dem griechischen Königreich und Anatolien ist in Istanbul allgegenwärtig. Der Taksimplatz ist internationaler Treffpunkt, die Stadt ist in Alliiertenhand, man weiß noch nicht, wer Konstantinopel oder „Stambul“, wie Dos Passos es nennt, in Zukunft vereinnahmen wird. Auch im späteren Verlauf der Reise gerät er immer wieder in ethnische Konflikte, die sich noch aus dem Ersten Weltkrieg ergeben. Die Hungersnöte infolge des Krieges beschreibt er und spürt sie bisweilen am eigenen Leib.
Der Erzähler bleibt dabei in gewisser Weise Tourist. Er versteht einige Male nicht, welche Volksgruppen sich in den Orten bekämpfen. Einmal, als die Gruppe, der er sich angeschlossen hat, auf Hinterhalte achtgeben muss, bemerkt er: „Wunderbar, wie alle Verantwortung von einem genommen wird, wenn man die Sprache nicht versteht.“
Thematisch widmet sich Dos Passos zum Großteil der tradierten Orient-Okzident-Dichotomie und überprüft die Stereotype: „Und aus irgendeinem Grund überkam mich eine Abscheu vor den ganzen romantischen Orientklischees, von denen es ja selbst im Orient wimmelt, so dass ich fast wieder in mein Zimmer geklettert wäre, um all diese Gedanken in mein Notizbuch zu schreiben“, heißt es da.
Gleichzeitig versucht er, aus diesen neuen Eindrücken eine andere Kapitalismuskritik zu formulieren. Zuvor war er in den USA bereits als Schriftsteller bekannt geworden, der den Kapitalismus fordistischer Prägung geißelte. Nun findet er auf seiner Reise zwischen Euphrat und Tigris eine Kultur vor, in der die Güter und Dinge für die Menschen da sind – und wo die Menschen sich nicht umgekehrt aufopfern für die Produktion von Dingen. In Bagdad merkt der Erzähler an: „Für jeden, der in einer Kultur aufgewachsen ist, die den Besitz anbetet, sind diese Zelte unglaublich leer. Ein paar Teppiche, einige Sättel und Gewehre, Schaffelle, Kochtöpfe und die schwarzen, schmucklosen Wände ihrer Zelte – das ist alles […].“
Das Erzähltempo in „Orient-Express“ ist bisweilen schnell und atemlos, dann wieder ruht die Erzählung mit den Gedanken des Reisenden. Man merkt aber bereits in der frühen Erzählung, dass Dos Passos stilistisch etwa auch für Alfred Döblin ein Vorbild war. Er orientiert sich einerseits an den alten Reiseerzählungen (Marco Polo, Jules Verne) – die er auch nennt –, weist aber stilistisch schon voraus auf spätere Reiseberichte des 20. Jahrhunderts. Was etwa die Beatniks in den 50ern und 60ern veröffentlichen sollten, dafür finden sich hier die Grundlagen.
Die Sprache des Romans ist von Matthias Fienbork behutsam ins Deutsche übertragen worden. Während man anfangs bei dem „feuchtnasigen Wind“ noch skeptisch ist, spürt man die Stärke der Übersetzung zunehmend. Wenn dann später von „Regenlispeln“ die Rede ist oder – noch mal Regen – der Erzähler sich „hinaus in die Dunkelheit des regengepeitschten Hafens“ begibt, scheint die Übersetzung angemessen nah am Original.
Der Sinnsucher in John Dos Passos, der 1970 im Alter von 74 Jahren starb, ist im gesamten Roman zugegen. So kann er dem Erzähler auch solch wunderbare Sätze in den Mund legen: „Kein Opium ist so süß wie der sorglose Schlaf auf einem Schiffsdeck an einem sonnigen Sommernachmittag, wenn man nicht weiß, wann man wo ankommen wird, wenn man Ost und West vergessen hat und seinen Namen und seine Adresse und wie viel Geld man in der Tasche hat.“ Wer wollte da widersprechen.
■ John Dos Passos: „Orient-Express“. Aus dem amerikanischen Englisch von Matthias Fienbork. Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2013, 208 Seiten, 18,90 Euro