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Archiv-Artikel

Ein Schwein von Welt

VON SABINE HERRE

An der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert entdeckte Italien seine Liebe zum Speck. In hauchdünne, fast durchsichtige Scheiben geschnitten, legte man das weiße Fett, das nur von wenigen feinen Fleischfasern durchzogen ist, als Antipasti auf das geröstete Brot. Wickelt es um gebratene Scampi oder streut es auf die Kichererbsensuppe. Am beliebtesten ist der Lardo di Colonnata, der bei Carrara in Marmortrögen sechs Monate seiner Vollendung entgegen reift. In Deutschland, wo man weißen Speck gewöhnlich zum Spicken des Rehbratens oder als Füllung von Rindsrouladen verwendet, erweckt diese italienische Fettliebe zunächst nur Staunen. Doch jetzt hat ein Metzger in Hessental bei Schwäbisch Hall sich daran gewagt, seinen Kunden etwas dem Lardo Vergleichbares anzubieten.

Natürlich gibt es in Hessental keinen Marmor. Und so trocknet der schwäbische Lardo in einer Speisekammer im Welzheimer Wald. Außerdem hat er einen deutlich höheren Fleischanteil als der italienische Speck, rund ein Drittel. Was ein Kompromissangebot an die Deutschen ist: Das Fleisch stammt vom Rücken und nicht vom Bauch des Schweins. Doch Reifezeit und Gewürze sind identisch: sechs Monate in einer Schicht aus Rosmarin und Salz. Übereinstimmend ist auch, dass der schwäbische Speck wie der italienische von einer alten, fast ausgestorbenen Schweinerasse stammt. In der Toskana ist es die Cinta Sienese, in Schwäbisch Hall das Schwäbisch-Hällische.

Tatsächlich hat sich Metzgermeister Uwe Grambach von dem toskanischen Lardo zu seinem Speck vom Schwäbisch-Hällischen Schwein inspirieren lassen. In Turin war das, im Jahre 2004 beim Salone del Gusto, einer Feinschmeckermesse, die Slow Food alle zwei Jahre organisiert. Und Feinschmecker sind es auch, die sogar aus dem 70 Kilometer entfernten Stuttgart nach Hessental kommen, um das weiße Fett zu kaufen. Denn es zergeht auf der Zunge.

Dass es das Schwäbische-Hällische Schwein und sein populäres Fett überhaupt noch gibt, ist einem Mann zu verdanken, der einst als Chef einer – wie er selbst sagt – „agraroppositionellen Zelle“ anfing und als Gründer der Erzeugergemeinschaft Schwäbisch Hall die alte Rasse zu neuem Ruhm führte. Rudolf Bühler aus Wolpertshausen. Zwischen 1978 und 84 arbeitete Bühler als Entwicklungshelfer in Afrika und Asien. Dabei merkte er, „dass die alten, einheimischen Landrassen mit Klima und Futter viel besser zurecht kommen als die aus den Industrieländern eingeführten Turbotiere“. Nach Hause, ins Hohenlohische zurückgekehrt, wollte er die „damals fast schon revolutionäre Idee, alte Haustierrassen zu erhalten, in die Praxis umsetzen“.

Dabei stammt das Schwäbisch-Hällische Schwein eigentlich gar nicht aus Schwäbisch Hall, sondern aus Jinhua, einer Mittelgebirgsregion in der Mitte Chinas. Von dort kam es im 18.Jahrhundert – so wird zumindest vermutet – auf Schiffen der ostindischen Handelskompagnie zunächst nach England. Nach Aufhebung der von Napoleon verhängten Kontinentalsperre erreichte es dann den Kontinent und damit auch Württemberg. Auf der königlichen Domäne des Landes in Stuttgart-Hohenheim wurde es 1821 erstmals gezüchtet.

Den Namen erhielt das Schwäbisch-Hällische Schwein durch die schlichte Tatsache, dass es rund um Schwäbisch Hall, einer Stadt am Kocher nordöstlich von Stuttgart, am verbreitetsten war. 1844 konnte man im landwirtschaftlichen Correspondenzblatt lesen: „Das Hällische Land ist das Land der Schweine, denn nirgends versteht man sich auf Schweinemast und Schweinezucht so gut wie im Hällischen … und nirgends trifft man die eigenthümliche vorzügliche Race von Schweinen an, welche der Hällische Bauer hat.“

Wie alle aus China stammenden Schweine gehört auch das Schwäbisch-Hällische zur „Race“ der Sattel- oder Maskenschweine: Ihr Rücken – der Sattel – ist weiß, Hinterteil und Kopf dagegen schwarz, weshalb die Schwaben diese Schweine auch Mohrenköpfle nennen. Über ihre Fähigkeiten hieß es im landwirtschaftlichen Correspondenzblatt: „Zu loben ist die Masthaftigkeit, Fruchtbarkeit, die Größe ihrer Ferkel.“ Das Mohrenköpfle wühle den Boden nicht um, sei genügsam und liefere außerdem „gutes Fleisch, vorzüglich, schmackhaft“. Die Schwäbisch Haller waren so stolz auf ihre Schweine, dass sie sie 1841 beim Festzug zum 25-jährigen Kronjubiläum König Wilhelm I. vorführten.

Ein Schwein für das Museum

Gut 100 Jahre danach, um 1950, lag der Marktanteil der Schwäbisch-Hällischen Schweine in ihrer Heimatregion bei 99,2 Prozent. Doch bereits weitere 20 Jahre später galt die Rasse als praktisch ausgestorben. So dass der damalige Landrat auf einer Schweinezüchterversammlung am 30. Januar 1969 im Gasthaus zur Sonne in Unterscheffach empfahl „den letzten zur Zeit lebenden Schwäbisch-Hällischen Eber auszustopfen und ins Museum zu bringen“.

Wer jetzt noch Schwäbisch-Hällische Schweine züchtete, wurde mit Preisabschlägen bestraft. In einer Zeit, in der die Verbraucher nur noch mageres Fleisch wünschten, hatten die fetten Mohrenköpfle keine Chance mehr. Fast keine. Denn, so Rudolf Bühler, „die Bauern aus Hohenlohe bewiesen einmal mehr, dass sie ihren aufrechten Gang nie verlernt haben“. Auf einigen wenigen Höfen, so etwa in Wolpertsdorf und Wolpertshausen, konnten ein paar Hällische Schweine die Absatzkrise überleben. Am 18. Januar 1986, fast genau 17 Jahre nachdem die Rasse bereits abgeschrieben worden war, gründeten 17 Bauern in Hessental die „Züchtervereinigung Schwäbisch-Hällisches Schwein“.

Heute gibt es wieder 350 Herdbuchtiere, die Zahl der Bauern, die Hällische Scheine halten, liegt bei rund 100. Auf der Grünen Woche in Berlin bekam das Schwein und seine Züchter zwischen 1987 und 1990 stets den ersten Preis beim bundesweiten Schlachtleistungswettbewerb, zweimal waren sie Bundessieger für die beste Fleischqualität. „Leider jedoch“, so Bühler, „wurde der Wettbewerb nach der Wiedervereinigung eingestellt.“ Dennoch: In Deutschland ist das Schwäbisch-Hällische Schwein heute die bekannteste alte Tierrasse überhaupt. Es wird längst nicht mehr nur in Baden-Württemberg, sondern im ganzen Land gezüchtet. Selbst aus Japan kommen Journalisten nach Schwäbisch Hall, um über das schwäbische Chinesenschwein zu berichten.

Den Erfolg des Schwäbisch-Hällischen Schweins erklärt Bühler so: „In den Achtzigerjahren haben viele Ärzte davor gewarnt, das Fleisch der hoch gezüchteten Turboschweine zu essen. Da suchte man nach gesunden Nahrungsmitteln.“ Und zweitens ging Bühler, wie er selbst sagt, „strategisch und gezielt“ vor. „Genauso wie bei einem Entwicklungshilfeprojekt in Afrika.“ Die Gründung der Züchtergemeinschaft für das Mohrenköpfle „war ein Projekt zur Entwicklung der Region Hohenlohe“.

Inzwischen ist aus der Züchtervereinigung die „Bäuerliche Erzeugergemeinschaft Schwäbisch Hall“ hervorgegangen. Eine Genossenschaft mit rund 850 Bauern, 200 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von 50 Millionen Euro. Erzeugt werden längst nicht mehr nur Schwäbisch-Hällische Schweine, sondern auch Rinder der Marke Boeuf de Hohenlohe und Lammfleisch. Außerdem gehört der Erzeugergemeinschaft auch der Schlachthof von Schwäbisch Hall.

Und dieser Schlachthof war es dann auch, der Rudolf Bühler dazu brachte, sich an einem Projekt zu beteiligen, das auf den ersten Blick so gar nicht zu seinen Überzeugungen passt: Die Zusammenarbeit mit dem Nahrungsmittelkonzern Unilever. Für die Produkte der Marke „Du darfst“ liefert die bäuerliche Genossenschaft die Schweine. „Wenn wir den Schlachthof von der Stadt Schwäbisch Hall nicht übernommen hätten, wäre dieser dicht gemacht worden, denn die Stadt hatte kein Geld mehr dafür“, erzählt Bühler. Damit wäre ein weiterer regionaler Schlachthof verschwunden, der Transportweg für die Schwäbisch-Hällischen Schweine länger, der Stress für die Tiere höher geworden. Notwendig für den Erhalt des Schlachthofs waren aber fünf Millionen Euro Investitionen. Und die mussten ja irgendwoher kommen.

Zu dieser Zeit stand der Konzern Unilever unter Druck von Greenpeace. Die klebten auf die eingeschweißte Salami von „Du darfst“ rote Aufkleber mit der Aufschrift „Aus Massentierhaltung“. Das Unternehmen lenkte schließlich ein und begann nach Alternativen für seine Wurstherstellung zu suchen. Ein Jahr lang verhandelte man mit der Erzeugergemeinschaft. „Für ein Alibiprojekt wollte ich mich nicht hergeben“, sagt Bühler. Schließlich schloss man einen Vertrag, der vorsah, dass für „Du darfst“ nur solche Schweine verwendet werden, die artgerecht und ohne jede Gentechnik gehalten werden. Dafür bekommen die Bauern im Vergleich zum üblichen Marktpreis für Schweine einen Zuschlag von 20 Euro pro Tier. Nur zum Vergleich: Beim Schwäbisch-Hällischen beträgt der Aufpreis doppelt so viel.

In die kalorienarme Wurst kommen somit keine Schwäbisch-Hällischen Schweine, sondern die stressresistenten Tiere der Deutschen Landrasse. „Natürlich macht ‚Du darfst‘ keinen Gourmetschinken“, sagt Bühler. Dennoch sieht er die Zusammenarbeit nicht als Sündenfall, für den sie einige halten. Wohl zu Recht: Von Ökotest haben die Unilever-Produkte inzwischen die Note „sehr gut“ erhalten.

Schweine-Klassengesellschaft

Auf seinem eigenen Hof in Wolpertshausen widmet sich Rudolf Bühler dagegen ganz der Zufriedenstellung der heimischen Feinschmecker. Während die meisten Bauern der Region ihre Schwäbisch-Hällischen Schweine im Stall halten, lässt er seine auf der Wiese weiden. Wodurch so etwas wie ein schwäbisches Dreiklassen-Schweinesystem entsteht. Die einen, die normalen, aber artgerecht aufgezogenen weißen Landschweine liefern das Fleisch für die Wurst von „Du darfst“.

Die Schwäbisch-Hällischen Stallscheine kommen in vielen Betriebskantinen der Region auf den Tisch. Und können in zahlreichen Metzgereien zwischen Schwäbisch Hall und Stuttgart gekauft werden. Die besten Schweine jedoch, die Weideschweine, sind bestimmt für die Gourmetrestaurants wie das von Vincent Klink auf der Stuttgarter Wielandshöhe. Aber auch zu fettem schwäbischen Speck, zum „Lardo di Hessental“, werden sie ab und zu verarbeitet.