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Archiv-Artikel

„Ich bin ein Politik-Übersetzer“

Von der Lorenz-Entführung bis Rot-Rot: Der langjährige Parlamentssprecher Lutz-Rainer Düsing hat viel mitgemacht. Jetzt geht er in Rente – und weiß schon genau, was er nicht vermissen wird: die quälend langen Stunden am Ende der Plenarsitzungen

VON ULRICH SCHULTE

taz: Vom Parlamentssprecher zum Ruheständler – ist das nicht wie ein Vollbremsung von 100 Stundenkilometern auf null?

Lutz-Rainer Düsing: Nicht ganz. Zu Hause wartet noch einiges an Papierkram auf mich, der meiner Arbeit hier ähnelt. Aber Sie haben schon Recht: Dicht dran an wichtigen Persönlichkeiten zu sein, an Entscheidungsprozessen, das hat seinen Reiz. Es ist ein seltsames Gefühl, plötzlich außen vor zu bleiben. Ich glaube allerdings nicht, dass ich mir zu Hause regelmäßig Plenarsitzungen im Fernsehen anschaue. So schlimm ist der Entzug dann doch nicht.

Wie würden Sie Ihren Beruf einem Kind erklären?

Ich bin ein Politik-Übersetzer. Zunächst muss ich im Parlament am Ball bleiben: In Sitzungen gehen, in den Ältestenrat, mit dem Parlamentspräsidenten reden, und so weiter. Nur wenn ich informiert bin, kann ich der Öffentlichkeit die Arbeit des Parlaments erklären. Das muss ich verständlich tun. Politiker, Juristen und Beamte drücken sich oft kompliziert aus, das übersetzen wir ins Deutsche. Der Unterschied zu den Pressestellen der Fraktionen ist, dass die immer auch ihre eigenen politischen Ziele rüberbringen. Wir arbeiten strikt überparteilich. Der Abgeordnetenhauspräsident ist für alle da.

Sind Sie Mitglied einer Partei?

Ja, ich bin Sozialdemokrat. Ich habe aber die längste Zeit unter CDU-Präsidenten gearbeitet – denken Sie an Reinhard Führer oder Hanna-Renate Laurien. Alle haben ihre Position als überparteilich verstanden. Sie haben nicht gezögert, eigene Leute in Plenarsitzungen zur Ordnung zu rufen. In meiner Zeit habe ich acht Präsidenten gedient und einer Präsidentin. In zehn Wahlperioden. Ich habe extra nachgezählt.

Fällt es schwer, die eigene politische Meinung außen vor zu lassen?

Nein, mir nicht. Der Parlamentssprecher muss die Anliegen aller Fraktionen gleich behandeln, alles andere wäre eine Verkennung seiner Rolle. Die kontrollieren das auch. Vor der Vereinigung tagte das Parlament ja im Rathaus Schöneberg. Als ich dort 1974 anfing, kam während eines Pressegesprächs einmal der Fraktionsgeschäftsführer einer Partei rein, setzte sich hinten hin und horchte, ob der neue Kollege alles richtig wiedergibt. Nur so viel: Er gehörte nicht zur SPD.

Haben Sie in den 31 Jahren einmal mit dem Gedanken gespielt, selbst in die Politik zu gehen?

Es hat mich schon ab und an gereizt, ein bisschen mehr mitzumachen. Aber ich habe mich parteilich kaum engagiert und führte eher ein Karteileichendasein. Sie können schlecht im Bezirk gegen die CDU vom Leder ziehen und am nächsten Tag mit dem CDU-Parlamentspräsidenten konferieren. Der Mitarbeiterkern um den Präsidenten darf nicht parteipolitisch denken, der Sprecherposten ist eben eine Vertrauensstellung.

Sie hatten in der Pressestelle einen turbulenten Start. Ein Jahr nach Ihrem Dienstantritt hat die Bewegung 2. Juni den damaligen CDU-Landeschef Peter Lorenz entführt …

… der auch Vizepräsident des Parlaments war. Das Rathaus Schöneberg wimmelte damals von Polizisten in Uniform und Zivil. Und aus Bonn flog die Führungsriege der Bundesrepublik ein: Brandt, Genscher und andere. Das waren harte Tage: Ich erinnere mich noch an das Bild in den Zeitungen, wie er gefesselt da saß. Der Krisenstab tagte bis tief in die Nacht, bevor Lorenz dann nach ein paar Tagen freigelassen wurde. Er sprach später nicht gern darüber. Einmal ließ er durchblicken, dass er während der Entführung mit dem Leben abgeschlossen hatte.

Wie hat sich die Arbeit des Westberliner Parlaments vom heutigen Abgeordnetenhaus unterschieden?

Ganz wichtig war, auch wenn es banal klingt: Jede zweite Mark kam aus Bonn. Das Parlament konnte mehr gestalten und große Pläne machen. Wie alles in Westberlin war das Parlament ein Aushängeschild des freiheitlichen Westens. Nach dem Motto: Na ja, dann bauen wir halt ein ICC, was soll’s. Einmal im Jahr fuhr der Finanzsenator nach Bonn und führte angeblich „harte Verhandlungen“ mit dem Bundesfinanzminister. Natürlich war klar, dass der Bund zahlen musste.

Das Parlament diente als Aushängeschild – galt das auch für seine politische Wirkung?

Ja. Im Gegensatz zu anderen Landtagen fanden die Diskussionen im Hauptstadtparlament in der ganzen Bundesrepublik große Beachtung. Die Leute, Bürger, Journalisten und Politiker, haben sich sehr stark für die politischen Vorgänge auf der Westberliner Insel interessiert.

Heute dagegen nehmen viele Menschen das Abgeordnetenhaus nur noch als Plapperbude wahr.

Natürlich gibt es eine breite Schicht, die sich für Politik nicht interessiert. Eine andere Gruppe schaut eher auf den Senat als handelnde Instanz. Das Parlament hat es da manchmal etwas schwer: Was das Plenum beschließt, braucht eben mehr Zeit – bis ein Gesetz greift, vergehen Monate oder Jahre.

Gab es damals andere Politikertypen?

Das würde ich nicht sagen. Es gibt in jedem Parlament ein paar herausragende Rhetoriker, denen man mit Vergnügen zuhört – Wolfgang Wieland von den Grünen war so einer oder Klaus-Rüdiger Landowsky von der CDU. Auch der Umgang miteinander hat sich über die Jahre nicht geändert. Gut, da fällt ab und an ein unparlamentarischer Ausdruck, aber jeder kennt die Rolle des anderen. Der Koalitionsabgeordnete weiß: Herr XY ist in der Opposition, der muss mir jetzt eins überbraten. Trotzdem muss es möglich sein, hinterher ein Bier miteinander zu trinken.

Ist Politik nur Theater?

Nein, so weit würde ich nicht gehen. Die Demokratie weist Menschen verschiedene Rollen zu, die sie ausfüllen. Die Opposition muss angreifen, die Koalition ihre Beschlüsse begründen und verteidigen – dennoch bleibt eine gemeinsame Grundlage. Das kann man im Bund wunderbar beobachten: Die große Koalition arbeitet jetzt, wenige Monate nach einer rhetorischen Schlacht, professionell zusammen.

Manchmal bricht aber die Fassade, und echte Gefühle dringen durch.

Schon, aber die Schmerzgrenze liegt höher als bei Privatleuten. Dass man in der Politik – nach einer Verletzung – jahrelang nicht miteinander redet, kommt sehr selten vor. Das Ganze hat etwas von einem sportlichen Wettstreit.

Hätten Sie früher gedacht, dass die Sozialisten in Berlin mal mitregieren?

Das war in Schöneberg sehr schwer vorstellbar. Es gab ja noch Ende 2001, als sich die rot-rote Koalition abzeichnete, eine Riesenaufregung in der Stadt. Und ich gebe ehrlich zu: Als alter Westberliner brauchte ich schon eine Gewöhnungszeit. Aber eins war für uns von Anfang an klar: Das sind gewählte Abgeordnete. Punkt. Das wäre ja noch schöner, wenn wir, die Verwaltung, die Parlamentarier unterschiedlich behandeln würden.

Wie ist die Vereinigung im Parlament vonstatten gegangen?

Am Tag nach der Maueröffnung, dem 10. November, gab es eine Parlamentssitzung. Zu der haben wir – einmalig in der Geschichte des Abgeordnetenhauses – die Abgeordneten über den Rundfunk eingeladen. Anschließend haben ja Kohl, Momper und die anderen vor dem Rathaus so schrecklich schief die Nationalhymne gesungen.

Wie sind die Berliner Parlamente zusammengewachsen?

Drüben in Ostberlin gab es ja bis dahin nur ein Scheinparlament, die Stadtverordnetenversammlung. Die Mitglieder hätten die Protokolle immer schon fertig gehabt, bevor die Sitzung begann, witzelten wir damals. Mitarbeiter von uns sind ein Jahr lang ins Rote Rathaus gezogen, um die Arbeitsbedingungen für ein demokratisches Gremium zu schaffen. Die Ostberliner haben dann frei gewählt. Im Dezember 1990 schließlich wurde ein gemeinsames Landesparlament gewählt – aus West- und Ostabgeordneten.

Wie sind die miteinander klar gekommen?

Das war schon ein Zusammenprall zweier Kulturen. In allen Fraktionen gab’s eine Ossi- und eine Wessi-Riege. Das musste beispielsweise bei der Ämtervergabe berücksichtigt werden. Aber es gab auch schon mal parteiübergreifende Bündnisse, was vorher undenkbar gewesen wäre.

Haben Sie den Preußischen Landtag, das heutige Abgeordnetenhaus, vor seiner teuren Renovierung gesehen?

Der sah schlimm aus. In einer Ecke hatten sie Kloschüsseln gestapelt. Der Plenarsaal war ein Möbellager, durchs Dach regnete es herein. Und in den beiden Türmen oben fand man ja eine Abhörstation, die Stasi-Leute haben von dort aus mit Richtmikrofonen unter anderem das Schöneberger Rathaus belauscht. Die Schlafräume für die Stasi-Männer lagen übrigens in dem Gebäudeteil, in dem heute die Grünenfraktion sitzt. Aber heute sieht man davon natürlich nichts mehr. Die zweijährige Wiederherstellung des ganzen Parlamentsgebäudes hat 180 Millionen Mark gekostet. Bei der Eröffnung haben die begeisterten Berliner fast die Bauzäune umgedrückt.

Zum Schluss: Was werden Sie an Ihrem Job nicht vermissen?

Die letzten Stunden der Plenarsitzungen. Viele hängen träge in den Sesseln, keine Journalisten sind mehr da, aber wir Verwaltungsmitarbeiter müssen die Stellung halten.

Und was wird Ihnen fehlen?

Die Nähe zu den Ereignissen, wir sprachen darüber. Aber auch vieles an meiner Arbeit. Ich habe zum Beispiel die Entwürfe für Walter Mompers Reden zu wichtigen Anlässen geschrieben. In einer Festrede vor der Jüdischen Gemeinde muss jedes Wort stimmen. Ich habe oft bis in die Abendstunden an Texten gefeilt, aber es hat Spaß gemacht. Momper hat auch schon gefragt, ob ich ihm die ein oder andere Rede noch schreibe.