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Archiv-Artikel

Von Ärztefrust und Lehrer-Bashing

In Arbeit (1): Die Mittelschicht hat zu viel Angst vor dem Absturz. Doch die Politik muss diese Furcht ernst nehmen und gegen das Gefühl der Ausweglosigkeit aktiv werden

Beschäftigungs-politik muss den BürgerInnen Handlungsoptionen eröffnen

Nicht unbedingt etwas Tolles leisten müsse der Sprössling, sondern vor allem Glück haben. Das wünscht der Onkel seinem neu geborenen Neffen in Woody Allens jüngstem Film „Match Point“. Entscheidend für das Leben scheint also die glückliche Fügung, das Schicksal; es ist unkontrollierbar und nicht planbar. Dieses Gefühl spielt auch in den akademischen Mittelschichtmilieus eine wichtige Rolle. Von deren „Absturzangst“ ist derzeit häufig die Rede. Zu Recht?

Auf jeden Fall haben Ängste konkrete Folgen. Das wissen BörsenmaklerInnen, EinzelhändlerInnen und FamilienpolitikerInnen genau. Deshalb lohnt eine genauere Betrachtung: Welche Fakten haben die Lebenslagen dieses Milieus verändert? Welche angstverstärkenden Momente kommen hinzu? Und wie könnte man diese Entwicklung ins Positive wenden, also bewusst gegensteuern? Handelt es sich nicht vielmehr eher um eine Transformation als um einen Absturz?

Es stimmt, dass die so genannten Mittelschichtmilieus, darunter auch AkademikerInnen, an Sicherheiten eingebüßt haben. Rentenkürzungen, höhere Gesundheitskosten, der Abbau der Arbeitslosenunterstützung – das trifft auch diese Bevölkerungsgruppen.

Es stimmt aber auch, dass FacharbeiterInnen und besonders Ungelernte rein statistisch viel stärker von Joblosigkeit betroffen sind. So ist die Arbeitslosenquote unter AkademikerInnen im Jahre 2005 entgegen dem allgemeinen Trend sogar gesunken. Sie liegt bei rund vier Prozent und damit fast dreimal niedriger als die durchschnittliche Erwerbslosenquote in Deutschland.

Doch: Entscheidend für das Befinden der Akademikermilieus sind nicht Zahlen, sondern Wahrnehmung und Einordnung des ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels. Und da gibt es angstverstärkende Momente.

So herrscht etwa der Eindruck vor, der Arbeitsmarkt erfordere größere Flexibilität und Mobilität. Doch die Dauer der Betriebszugehörigkeit hat sich nachweisbar kaum verkürzt. Da jedoch heute mehr Frauen arbeiten als früher, müssen Paare zwei Jobs unter einen Hut bringen. Auf diese Weise verstärkt sich der Eindruck, ein zunehmend flexibler Arbeitsmarkt setze die Leute vermehrt unter Stress.

Die Einordnung von subjektiver Erfahrung orientiert sich an etablierten Vorstellungen. In den vergangenen zehn Jahren wurde rund ein Fünftel des Personals im unmittelbaren öffentlichen Dienst abgebaut. Wir müssen uns also von der Vorstellung des unkündbaren Staatsdieners verabschieden – und damit von einer wichtigen Säule des Sicherheitsempfindens der Mittelschichten.

Der steigende Anteil von Selbständigen an den Erwerbstätigen lässt wiederum das Bild des mühsam vor sich hin krepelnden Unternehmers aus Not erstehen, der sich täglich neu bei Kunden vermarkten muss. Ein Horrorbild für die Mittelschichten, die sich gefeit fühlen wollen gegen die Demütigungen des Marktes und sich nicht wie Tagelöhner verkaufen wollen.

Die Finanzkrise der öffentlichen Kassen und Krankenversicherungen ist auch mitverantwortlich für den Frust der Ärzte, die sich nicht mehr als renommierte Freiberufler, sondern nur noch als gebeutelte Abhängige von Klinikfinanzen und Punktesystemen fühlen. Doch auch dabei geht es um die Frage der Maßstäbe.

Im Vergleich etwa mit nordeuropäischen Ländern verdienen Ärzte hierzulande tatsächlich wenig. In Relation zu anderen akademischen Berufen in Deutschland aber stehen sie immer noch nicht schlecht da. So bekommt ein Assistenzarzt in Berlin zumindest ein Grundgehalt von 3.000 Euro brutto plus Bereitschaftsdienste, ein Bauingenieur muss hingegen Jobs für 2.000 Euro brutto annehmen. Auch junge Anwälte und Architekten haben zu knapsen. Berufseinsteigende IT-Berater erhalten 3.000 Euro Startgehalt.

Doch schon die Vergleiche sind ein Minenfeld. Denn nichts wächst derzeit so stark wie Ressentiments. Ärzte unterstellen den LehrerInnen, aufgrund der vielen Ferientage das leichtere Leben zu haben. Selbständige in der Baubranche wiederum halten den Ärzten vor, sie könnten sich immerhin über eine sichere Arbeitsmarktlage freuen. Arbeitsbedingungen, Aufstiegschancen und Jobsicherheiten werden gegeneinander aufgerechnet. Dabei gibt es sicher aktuelle Missstände, wie etwa die überlangen Arbeitszeiten in den Krankenhäusern. Der Streit um wahre oder vermeintliche „Abstürze“ der Mittelschichten ist aber auch ein implizites Verhandeln über neue Maßstäbe von Wohlstand und Sicherheit.

Was die Bewertung von Veränderung betrifft, gelten dabei bestimmte Regeln der Psychologie: Vergleiche mit anderen, besonders negative, zählen für die Menschen immer mehr als absolute Werte. Verluste werden stärker registriert als Gewinne.

Deshalb hat die jüngere Generation weniger Angst vor dem Wandel als die Älteren. Sie vergleicht kaum mit früher. Die Jüngeren wissen, dass es keine ABM-Karrieren als Auffangbecken mehr gibt und die Rente nicht sicher ist. Sie sind aber auch entlastet von der Idee, dass berufliche Erfolge nur in der Verantwortung des Einzelnen liegen und jeder selbst schuld ist an der Arbeitslosigkeit. Dazu befinden sich zu viele junge AkademikerInnen in Praktikantenkarrieren oder unsicheren Honorarjobs. Das Berufsleben verläuft schicksalhafter als in den Erfolgsstorys der Wirtschaftsmagazine verkündet.

Bei AkademikerInnen ist die Arbeitslosenquote vergangenes Jahr sogar gesunken

Maßstäbe sind also veränderbar. Doch auch für die Bewältigung von Angst gelten bestimmte Gesetze. Bei Angst ist die beste Reaktion das positive Herangehen, also der Angriff; die zweitbeste die Flucht. Schlimm aber ist die dritte Möglichkeit: die Lähmung, die Starre, das Gefühl, keine Handlungsoption mehr zu haben. Genau deshalb wird zur wichtigsten Aufgabe gesellschaftlichen „Angstmanagements“ in Zeiten der Transformation, dieses Gefühl von subjektiver Ausweglosigkeit zu verhindern – auch für die akademischen Mittelschichten.

Deswegen ist in der Beschäftigungspolitik alles genau richtig, was den BürgerInnen Handlungsoptionen eröffnet, wenn auch vielleicht nicht auf hohem Niveau. Dazu gehört die Förderung von Kleinselbständigkeit, das Angebot von Ein-Euro-Jobs auch für höher Gebildete, neue Versuche zu Kombilöhnen auch für Ältere, das Thematisieren von Grundregeln für die Beschäftigung von Praktikanten.

Mit Vorsicht sind daher Aussagen von Arbeitsmarktpolitikern aus Union und SPD zu genießen, die Maßnahmen der Arbeitsagenturen bündeln und „verschlanken“ zu wollen. Eine Beschäftigungspolitik, die sich an den Menschen orientiert, muss vielfältig sein.

Ist das zu wenig für die angstgeplagte Mittelschicht? Das Verschieben von Maßstäben zumindest kann auch eine positive Handlung sein. Und nach wie vor finden sich AkademikerInnen eher selten in geförderten Jobs – weil sie die bislang eben weniger brauchen. Das ist doch ein gutes Zeichen. BARBARA DRIBBUSCH