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Archiv-Artikel

Der eigene Vater – dieser wilde, mythische Begriff

AUSLANDSGRIECHE Nachruf, Liebesdienst, Suche nach Intimität, Eroberung der eigenen Herkunft: Mit poetischer Freude begibt sich Aris Fioretos auf eine Spurensuche nach seinem Vater

Manche Sätze dieses Buchs können dann auch das eigene Verhältnis zu den Eltern anstrahlen

VON ULRICH RÜDENAUER

Aris Fioretos’ jüngstes Buch, „Die halbe Sonne“, hat keinen Gattungsnamen, aber einen Untertitel: „Ein Buch über einen Vater“. Trotz des unbestimmten Artikels – es handelt sich dabei nicht um irgendeinen Vater, sondern um jenen des 1960 in Göteborg geborenen, schwedisch-griechisch-österreichischen Autors Aris Fioretos. Es ist ein Erinnerungs- und zugleich Selbstvergewisserungsbuch. Dieses Werk allerdings ausschließlich autobiografisch zu lesen würde in die Irre führen: Fioretos ist ein mit allen Wassern gewaschener Autor, der seine Spurensuche formal so geschickt aufbaut, dass daraus etwas höchst Literarisches wird.

Zumal „ein Vater“, wie es einmal heißt, ein „wilder Begriff“ sei, der sich allzu simplen Definitionen mit poetischer Freude entzieht. Aus „dem Vater“ und „dem Sohn“ erstehen so in ihrer bewusst gesetzten Unbestimmtheit zugleich fiktionale Figuren, die einen Raum eröffnen, in dem auch die Fragen des Lesers nach Herkunft und Familie Widerhall finden können. „Der Vater enthält vieles, was den Sohn beschäftigt. Wenn er ihn in die Zeit vor dem Anbeginn der Welt zurückerzählen will, kann dies keinesfalls ohne die Mythen geschehen. Auch nicht ohne die Dinge, über die sich der Vater lieber in Schweigen hüllte, wodurch immer wieder eine Leere entstand, die durch Vermutungen gefüllt werden musste.“

Der griechische Vater studiert in den sechziger Jahren in Wien Medizin, lernt eine Österreicherin kennen, die er heiraten wird. Er geht nach Schweden, und aus einer Durchgangsstation wird ein Exil: Die Militärjunta übernimmt am 21. April 1967 die Herrschaft, eine Rückkehr erscheint nicht opportun, und der Grieche im Ausland verwandelt sich in einen „Auslandsgriechen“, der erst viele Jahre später wieder nach Griechenland zurückkehren kann. Er lernt sich also anzupassen, aber sein Möglichkeitssinn bleibt immer genauso stark ausgeprägt wie sein Wirklichkeitsbewusstsein.

Es ist diese Spannung, die Fioretos interessiert und den Vater zugleich zu einem Fremden macht: Wie richtet sich einer in einem neuen Land ein, wenn er seine Heimat im Innern trägt, darin weiterhin ruhelos umherspaziert, sich zurücksehnt wie ein Vertriebener ins Paradies, aber auch in der neuen Heimat vorankommen möchte – in seinem Beruf und mit der Familie? Und was macht das mit seinen Kindern, dem Sohn, der gleich mit drei Sprachen konfrontiert ist und erst einmal nicht versteht, warum dieser Auslandsvater in vielerlei Hinsicht anders ist als die Väter der Freunde?

„Der Vater, der sich von seinem Vater nicht verabschieden konnte, greift auf alle nur erdenklichen Arten zurück, seinen Kindern seine Sprache beizubringen. Die Rückreise ins Heimatland führt über Vokabeln, die so alt sind wie Götter oder zumindest Amphoren.“

Die Sprache besteht nicht nur aus Vokabeln, sondern ist auch eine des Körpers, der Bewegung, des Denkens. Oft beschreibt Fioretos gerade diese Details, die Hände des Vaters etwa, seine Gesten. Aris Fioretos dekliniert all das durch, was ihm in Erinnerung geblieben ist und was er zu erinnern glaubt; er setzt den Vater wie ein Puzzle zusammen, nachdem er ihm früher immer wie eine verwirrende Sammlung von Einzelteilen erschienen ist oder eine Anhäufung von Synonymen.

Fioretos geht dabei von der Gegenwart in die Vergangenheit, vom Sterbenden, Hinfälligen, Demenzkranken zum jungen Mann, sogar zurück noch vor die Geburt des Sohnes. Er sortiert die Eindrücke und Begriffe, fasst in kleinen Abschnitten, was ihm ansonsten unfassbar scheint, erzählt mit Sorgfalt, sprunghaft auch und mit ganz verschiedenen stilistischen Mitteln – souverän ins Deutsche gebracht von Paul Berf. So zeichnet Fioretos immer konturenreicher den Vater nach einem inneren Bild, muss aber zuweilen von diesem, der als Toter in seinem Kopf herumspukt, ein wenig zur Ordnung gerufen werden: „Du betrachtest mich, als würdest du mich erfinden. Tu das nicht.“

Finden und Erfinden liegen nicht so weit auseinander. Fioretos’ Erzählweise strebt nach Gerechtigkeit. Sein Buch ist sowohl ein Nachruf, ein Liebesdienst wie auch eine Suche nach Identität. Die muss, zurückgebunden an die Herkunft und in Einklang mit dem eigenen Leben als in Schweden aufwachsender Junge, erobert werden.

Es muss sich etwas runden. „Die halbe Sonne“ ist dafür ein schönes Bild: eine auseinandergeschnittene Apfelsine, die der Vater dem Sohn hinhält – Symbol sowohl für die eigene Unvollständigkeit als auch für die des Kindes. Dass am Ende dieses Bild wieder aufgegriffen wird und der Bauch der schwangeren Frau die Ganzheit verkörpert, die andere Hälfte, ist nur eines der wunderbar gelungenen Bilder dieser Vaterbiografie.

Mit seinem vorangegangenen Roman, „Der letzte Grieche“, hat sich Fioretos nach der Veröffentlichung fiktiver und essayistischer Prosa schon ein wenig an die ureigene Herkunftsgeschichte angenähert – auch wenn er damals sagte, der autobiografische Anteil liege lediglich bei „3,5 Prozent“, und man müsse ihn sich wie ein Gewürz vorstellen, das in die Handlung gestreut wird.

Nun dürfte der Prozentsatz sehr viel höher liegen. „Die halbe Sonne“ ist dabei aber so kunstvoll gestaltet, dass dieser griechische Vater jeden angehen und berühren dürfte. Manche Sätze können dann auch das eigene Verhältnis zu den Eltern anstrahlen, etwas im Leser auslösen, und man ertappt sich dabei, wie man bei der Lektüre leise anfängt, sich eigene Geschichten zu erzählen.

Aris Fioretos: „Die halbe Sonne. Ein Buch über einen Vater“. Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Hanser Verlag, München 2013, 191 Seiten, 14,99 Euro