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Archiv-Artikel

Libanon Calling

WELTOFFENHEIT Frauenfrage, Nostalgiefrage, Palästinenserfrage und ein Schuhmacher namens Rafi: Eindrücke vom Hay Festival in Beirut

The Poeticians verlesen ihre echt harschen Gedichte über Vergewaltigung und Frauenmord, Lust und Sex

VON FATMA AYDEMIR

Der Glanz der Hafenstadt spiegelt sich in ihren tausendundein Gesichtern wider. Für die Libanesen und die umliegenden Völker ist Beirut ein Tor zum Rest der Welt. Für den Rest der Welt ist die Hauptstadt des Libanon ein sicherer Hafen für den unkomplizierten Flirt mit dem arabischen Raum. Beirut hat sich in den vergangenen Jahren wieder zum Hotspot für Touristen und Künstler aus Ost und West entwickelt. Ein ähnlich weltoffenes Flair herrschte in der Stadt vor über hundert Jahren schon, wie der britische Historiker Philip Mansel seinem Publikum erklärt, als immer mehr Diplomaten und Unternehmer aus dem Ausland anreisten, um hier Geschäfte zu machen. Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich Beirut zu einem Zentrum des Genusses entwickelt, sagt er, Cafés, Bordelle und Tanzlokale sind regelrecht aus dem Boden gesprossen.

Im Rahmen des Hay Festivals, das drei Tage lang Künstler, Intellektuelle und Aktivisten aus der arabischen Welt, aus Europa und den USA zusammenführt, stellt Philip Mansel seine aktuelle Forschung zur Levante vor. Das internationale Non-Profit-Festival findet zum zweiten Mal in Beirut statt und erstreckt sich über verschiedene Locations der Stadt. Passend zu seiner historischen Aufarbeitung der Stadtentwicklung Beiruts durch die Erschließung von Seiten westlicher Unternehmer, spricht Philip Mansel in den Räumlichkeiten der imposanten American University of Beirut (AUB), die 1866 als zweite US-Hochschule außerhalb Nordamerikas gegründet wurde und noch heute als eine der wichtigsten Universitäten im Nahen Osten gilt.

Mansel wirft einen Blick durch das Fenster, das ein von Palmen umrahmtes Panorama vom Azur des Mittelmeers zeigt, und sagt: „Beirut war schon damals demografisch recht ausgeglichen. Hier trafen unheimlich viele Kulturen und Religionen aufeinander und bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts herrschte eine friedliche Koexistenz. Deshalb ist hier heute eine zunehmende Nostalgie um das Osmanische Reich zu beobachten. Das 20. Jahrhundert war für die meisten eine einzige Katastrophe, sie sehnen sich zurück in eine glücklichere Zeit.“

Sicherheitskräfte überwachen strengstens alle Ein- und Ausgänge des idyllischen Campus der Privatuni AUB. Man ist nicht sicher, ob das hier Beirut oder Kalifornien ist, nicht nur wegen der neutralen Architektur und den internationalen Studenten. Es ist vor allem diese beständige Ruhe. Kein Hupen, keine quietschenden Reifen, kein Gebrüll. Vom Krach der eng bebauten Zweimillionenstadt nimmt man hier so gut wie nichts wahr.

Auf dem Weg zum nächsten Veranstaltungsort fährt man entlang der einstigen „Green Line“, die die muslimische Bevölkerung in Westbeirut von der verfeindeten christlichen Gemeinde im Ostteil der Stadt trennte. Spuren des 15-jährigen Bürgerkriegs (1975–1990) haben sich hier in Form von Einschusslöchern und verlassenen Hausruinen wie Narben in das Stadtbild eingeschrieben. Aufgrund der Zersplitterung innerhalb der jeweiligen Konfessionen, wie den Schiiten und Sunniten im Islam, sind im heutigen Libanon insgesamt 18 Glaubensrichtungen als Religionsgemeinschaften anerkannt und im Parlament repräsentiert. Zwischen Industriegeländen und Schnellstraßen versteckt sich ein noch sehr junges Gesicht der Nachkriegsstadt: Das 2009 eröffnete Beirut Art Center ist zum wichtigsten Ausstellungsraum für zeitgenössische Kunst avanciert. Hier spricht der maltesisch-amerikanische Journalist und Graphic-Novel-Autor Joe Sacco mit dem libanesischen Künstler Mazen Kerbaj.

Der Erfinder der sogenannten Comic-Reportage hat im Libanon viele Fans, das Auditorium ist voll. Das mag nicht zuletzt an den beiden Büchern „Palestine“ und „Footnotes from Gaza“ liegen, in denen Sacco klar Stellung für Palästina bezieht. Ein anderes Kapitel der dunklen Geschichte des Libanon ist nämlich der dauernde Kriegszustand mit dem israelischen Staat seit dessen Ausrufung im Jahr 1948. Joe Sacco zeigt sich über das Interesse für sein Werk erstaunt, denn seine Comics, so der Autor, seien anfangs nur für ein amerikanisches Publikum gedacht gewesen: „Ich wollte die einseitigen Ansichten über den Nahost-Konflikt gerade rücken. Wenn in den Nachrichten über eine Busbombe in Tel Aviv berichtet wird, erfährt man nichts vom historischen Kontext, in dem ein solches Ereignis steht.“

Für „Footnotes from Gaza“ reiste Sacco nach Palästina, um Recherche aus erster Hand zu betreiben. Er interviewte Leute vor Ort über ihre Erinnerungen an die Tötung zahlreicher Zivilisten in Gaza während der Suezkrise (1956) und hält auch diesen Recherchevorgang in dem Comic fest, in welchem er selbst als Reporter auftritt. Da die israelische Geschichtsschreibung von der palästinensischen abweicht und es schwierig ist, an eindeutige „Fakten“ zu den Hintergründen zu kommen, sucht Sacco die Wahrheit in der „Oral History“.

Auf Widersprüchlichkeiten mancher Aussage wird hingewiesen, dennoch wird die israelische Sicht auf die Ereignisse bei Sacco weitgehend ausgespart. Für seine Antwort auf die Frage, wie er sich als Journalist so klar auf eine Seite schlagen könne, erntet Sacco – es überrascht kaum – die volle Sympathie des Saals: „Erstens glaube ich nicht an Objektivität. Ich nutze mein journalistisches Handwerk nur, um künstlerisch zu arbeiten. Und zweitens stelle ich mich immer auf die unterdrückte Seite. Die Palästinenser sind ein unterdrücktes Volk. Ich versuche sie nicht zu beschönigen oder den israelischen Staat schlecht zu reden. Ich stelle die Dinge lediglich so dar, wie ich sie sehe.“

Unterdrückung ist auch der Hauptgegenstand des Panels zu Frauenrechten im Nahen Osten. Eine Runde bemerkenswerter Aktivistinnen aus Ägypten, Libyen und Jordanien diskutiert das Potenzial in der Folgezeit der Aufstände, die erstmals auch junge Frauen und insbesondere jene aus der unteren Mittelschicht auf die Straße und mitten ins gewaltsame Gefecht zwischen männliche Protestierende und Militär getrieben hatten. Am Beispiel Ägyptens lässt sich leider auch ermessen, wie schnell dieser Aufschrei mit der Übernahme durch ein neues autoritäres System zu ersticken droht.

Heba Mourayef, Leiterin des Human Rights Watch Egypt, betont jedoch mit Nachdruck, dass es viel zu simpel wäre, die Unterdrückung der Frau allein auf die aktuelle Islamisierung des Landes unter der Regierung der Mursi Brüderschaft zurückzuführen: „Das Mubarak-Regime hat Gewalt gegen Frauen niemals ernst genommen. Diese Ignoranz ist tief in der Gesellschaft verankert. Seit jeher gehört sexuelle Belästigung zum Alltag der ägyptischen Frau und sie hat kaum rechtliche Möglichkeiten, sich dagegen zur Wehr zu setzen.“

Das 20. Jahrhundert war eine einzige Katastrophe. Viele sehnen sich in das Osmanische Reich zurück

Dass feministische Positionen ein fester Bestandteil der Beiruter Kunst- und Literaturszene sind, zeigt der feucht-fröhliche Lyrikabend im alternativen Zico House. Dichterinnen des Kollektivs The Poeticians verlesen ihre teilweise echt harschen Gedichte über Vergewaltigung und Frauenmord, Lust und Sex. Doch auch dem Einfluss des Bürgerkriegs im Nachbarland Syrien werden Stücke gewidmet. Eines von ihnen heißt „Hamra“, wie die Ausgeh- und Einkaufsstraße in Westbeirut. Es erzählt von den syrischen Flüchtlingsfamilien, die dort seit kurzem mit ausgestreckter Hand betteln müssen, während Passantinnen sich nach teuren Dessous umsehen. Die im knappen Paillettenkleid schillernde Poeticians-Gründerin Hind Shoufani bricht fast in Tränen aus, als sie ein Gedicht für ihren Vater vorträgt. Vor zwei Monaten ist er in seinem Haus in Damaskus gestorben, ohne dass die Tochter ihn ein letztes Mal hat besuchen können.

Trauer liegt auch in der Luft über Bourj Hammoud. In dem armenischen Viertel steht noch immer das 1920 nach dem türkischen Genozid an den Armeniern errichtete Flüchtlingscamp Camp Sanjak. Hier herrscht keine osmanische Nostalgie, das versichern die unzähligen Graffitis und Sticker an den Wänden. Matthias Lilienthal, der ehemalige Intendant des Berliner HAU-Theaters, der gegenwärtig in Beirut lebt, inszeniert im Rahmen des anschließenden Home-Works-Festivals in dieser Gegend seine Performance-Tour „X-Apartments“. Kleine inszenierte Szenen in authentischen Wohnungen, mit diesem Konzept hat Lilienthal schon Besuchern in Berlin und Johannesburg die Türen zu privaten Wohnräumen geöffnet, um Geschichten aus dem Leben der Stadtbewohner zu erzählen.

An einem der Tourstopps wartet ein Kinderchor. Die Acht- bis Zwölfjährigen singen ein Lied über die Vertreibung ihres Volkes aus Südanatolien und erzählen dann in ausgezeichnetem Englisch von den Foltern, die ihre Vorfahren erleiden mussten, und dem jährlichen Gedenkfest, bei dem sie gemeinsam auf türkische Fahnen spucken. An einem anderen Ort, mitten im Camp Sanjak, sitzt der Schuhmacher Rafi. Er betreibt seine Manufaktur immer noch im Flüchtlingscamp, das bald abgerissen werden soll, obwohl er längst hochwertige Maßanfertigungen in die ganze Welt hinausschickt.

„Ich mag Gegensätze“, sagt Rafi und lächelt zufrieden. Mit Nieten besetzte High Heels aus Ziegenleder stehen im Schatten einer eingerissenen Barackenwand: Es ist ein weiteres der tausendundein Gesichter Beiruts.