: Science-Fiction im medizinischen Fachmagazin
Ein neuer Betrugsskandal: Norwegischer Forscher fabriziert sich seine Daten selbst. Auch die 13 Mitautoren der Studie wollen nichts gemerkt haben
Nach dem südkoreanischen Stammzellforscher Hwang Woo-Suk gibt es einen neuen Forschungsskandal. Ein norwegischer Krebsforscher hat die Daten für eine viel beachtete Krebsstudie frei erfunden. „Alles fabriziert“, wie Stein Vaaler, Direktor des Krebsbestrahlungszentrums in Oslo, am letzten Wochenende mitteilen musste: „Also keine Manipulation tatsächlicher Daten, sondern von vorn bis hinten alles frei erfunden.“
Hinter dem Schwindel steckt der 44-jährige Oberarzt Jon Sudbø, eine bislang anerkannte Kapazität in der internationalen Krebsforschung. Er hat 38 Originalartikel in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht und an 72 weiteren Publikationen mitgearbeitet. Mit „Schmerzmittel senkt Mundkrebsrisiko von Rauchern“ hatte AP im Oktober letzten Jahres einen Bericht über dessen damals in der britischen Medizinzeitschrift The Lancet erschienenen Studie überschrieben. Nun spricht Lancet-Redakteur Richard Horton „vom größten Schwindel eines Forschers, den die Welt je gesehen hat“ und kündigte für die morgen erscheinende Lancet-Ausgabe einen offiziellen Widerruf des Artikels an. Laut Horton ist Lancet zu einem solchen Schritt nun erst zum zweiten Mal in zehn Jahren gezwungen.
Dem Schwindel auf die Spur gekommen, war ein Arzt aus dem norwegischen Trondheim, der sich den Lancet-Text in den Weihnachtsferien zu Gemüte geführt hatte. Und sofort Alarm schlug. Die Studie konnte nicht stimmen. In ihr wurde auf ein Krebs- und ein Rezeptregister Bezug genommen, das es noch gar nicht gab, als die vermeintlichen Daten angeblich gesammelt wurden. Mittlerweile stellte sich heraus, dass mindestens 454 an Mundkrebs erkrankte und mit gewöhnlichen Schmerztabletten behandelte Patienten frei erfunden worden waren, um „passendes“ Datenmaterial zu haben. 250 von ihnen war das gleiche Geburtsdatum angedichtet worden, ohne dass dies jemandem aufgefallen wäre.
In der vergangenen Woche mit den Anschuldigungen konfrontiert gab Sudbø zu, die Daten erfunden zu haben. In der Öffentlichkeit verweigerte er dazu bislang jede Stellungnahme. Direktor Stein Vaaler: „Er konnte auch uns nicht erklären, warum. Das ist eine menschliche Tragödie und ein wirklicher Alptraum für unser Zentrum.“
Die Botschaft von Sudbøs erfundener Studie: Schmerztabletten geben einen gewissen Schutz gegen Mundkrebs. Allerdings seien diese für ein gesteigertes Risiko für Herz- und Gefässerkrankungen verantwortlich. Im Vergleich zwischen unterschiedlichen Schmerzmittel-„Familien“ kommt die Studie dann zu einer relativen Entlastung der durch den Vioxx-Skandal in Verruf geratenen Produkte mit COX-2-Inhibitoren. Gleichzeitig warnte Sudbø vor Schmerzmittel aus der Gruppe der nicht steroidalen Antiphlogistika (NSAID), dazu gehören unter anderem Ibux, Ibuprofen und Naproxen.
Interessant war dies für den Arzneimittelkonzern Pfizer und sein zu den COX-2-Produkten gehörendes Schmerzmittel Celebra. Pfizer hatte Sudbø auch eine Anschubfinanzierung für weitere Studien zugesagt. Der im Lancet-Artikel als eigentlicher Initiator der Studie genannte Mitverfasser, Professor Andrew Dannenberg von der Cornell University in New York, war laut norwegischer Medien in anderen Zusammenhängen in der Vergangenheit offen als Pfizer-Ratgeber aufgetreten. Auch Sudbø selbst habe mindestens zweimal Beraterhonorare von Pfizer erhalten, berichtet die Tageszeitung Dagbladet. Steinar Westin, Medizinprofessor an der Universität Trondheim: „Natürlich hatte Pfizer ein Interesse daran, wenn bei den gebräuchlicheren und billigeren NSAID-Schmerzmitteln die gleichen Typen von Nebenwirkungen festgestellt wurden, wie bei den eigenen und weitaus teureren COX-2-Inhibitoren.“
Sverre Mæhlum, medizinischer Direktor von Pfizer-Norwegen, bestreitet einen Einfluss seines Konzerns auf den Inhalt der Studie: „Wir sind wie alle anderen Akteure in dieser Sache überrascht über den Schwindel, der da jetzt aufgedeckt wurde.“
Im Bestrahlungszentrum in Oslo behauptet man, glücklicherweise seien keine Patienten zu Schaden gekommen, weil es noch kein Behandlungsprogramm gebe, das auf den erfundenen Daten basiere. Doch scheint dies nicht die ganze Wahrheit zu sein. In den USA wurden die „Erkenntnisse“ des norwegischen Arztes und seiner Mitforscher jedenfalls als so bedeutsam bewertet, dass die Arzneimittelbehörde FDA ihre Behandlungsempfehlungen änderte, als die Zahlen Sudbøs im Frühjahr 2005 erstmals auf einer Tagung bekannt wurden. Das US-National Cancer Institute bewilligte ihm für fortgesetzte Untersuchungen in den kommenden fünf Jahren Forschungsgelder in Höhe von 10 Millionen Dollar. Diese Folgestudie wurde vom Osloer Bestrahlungszentrum nun mit unmittelbarer Wirkung gestoppt. Außerdem wurde eine umfassende Untersuchung durch eine Kommission angekündigt.
Neben Sudbø trägt die Studie die Namen von 13 Mitverfassern, die damit auch für die fraglichen Daten mitverantwortlich sind – ohne sie aber offenbar überprüft zu haben. Was einer von ihnen, der Finne Ari Ristimäki in der Osloer Tageszeitung VG mit „unsere Arbeit beruht auf Vertrauen“ entschuldigt.
Nun will man auch alle anderen Forschungsergebnisse Sudbøs untersuchen. Denn so Vaaler: „Es ist klar, dass man in so einer Situation so seine Befürchtungen hat.“ REINHARD WOLFF