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Archiv-Artikel

Das Leid der Kriegsgefangenen

Eine Initiative sammelt Geld für sowjetische Soldaten, die unter deutscher Obhut wie Sklaven schuften mussten

Armenische Zwangsarbeiter erhalten 300 Euro – das entspricht einer Jahresrente

BERLIN taz ■ Dass zur Zwangsarbeit herangezogene sowjetische Kriegsgefangene von der Bundesstiftung keinen Cent erhalten haben, gehört zu den gravierendsten Mängeln des Entschädigungsprojekts. Diesem Versäumnis wäre die Weigerung zur Seite zu stellen, die zur Zwangsarbeit gepressten italienischen Militärinternierten in die Entschädigung einzubeziehen.

Der Ausschluss der sowjetischen Kriegsgefangenen-Zwangsarbeiter erfolgte im Jahr 2000 nach heftigen Diskussionen. Er mochte völkerrechtlich begründbar sein, vom moralischen Blickwinkel aus ist und bleibt er ein Skandal. Denn die zur Zwangsarbeit verpflichteten Kriegsgefangenen wurden als Sklaven gehalten – entsprechend der Ideologie vom slawischen Untermenschen, wie sie der Nazi-Ernährungsminister Backe 1941 zusammenfasste: „Armut, Hunger und Genügsamkeit erträgt der russische Mensch schon seit Jahrhunderten. Sein Magen ist dehnbar, daher kein falsches Mitleid.“

Drei der fünf Millionen sowjetischer Kriegsgefangener starben während der Haft. Und wer das Hunger- und Terrorregime überlebte, den erwartete nach dem Krieg in der Sowjetunion oft genug ein trauriges Schicksal – Verbannung und spätere Diskriminierung. Denn Kriegsgefangene galten als Verräter.

Eine Reihe von Bürgerinitiativen mochte sich mit den Mängeln des Stiftungsgesetzes nicht abfinden und griff zur Selbsthilfe. Solche Initiativen hatten vor den Verhandlungen zur Bundesstiftung oft harte Arbeit geleistet. Sie hatten Materialien gesammelt, ehemalige Zwangsarbeiter eingeladen und Druck auf die säumige Industrie ausgeübt, damit sie endlich den von ihr übernommenen Zahlungsverpflichtungen nachkam.

Von einigen dieser Initiativen wird heute auch, wenngleich vergeblich, eine Verlängerung der Antragsfristen und Aufklärung über die Ablehnungsgründe von Anträgen seitens der Partnerorganisationen der Bundesstiftung in Osteuropa verlangt.

Eine dieser Initiativen nennt sich „Bürger-Engagement“. Sie nimmt sich der Zwangsarbeiter und anderen Nazi-Opfer an, die keine Leistungen aus der Bundesstiftung erhalten. Schwerpunktmäßig geht es um die sowjetischen Kriegsgefangenen-Zwangsarbeiter; um „dislozierte“ Zwangsarbeiter, die außerhalb Deutschlands auf besetzten Territorien Osteuropas eingesetzt wurden; um Opfer, deren Anträge nicht ausreichend dokumentiert waren oder die unverschuldet die Antragsfrist versäumten; und schließlich um Juden und Roma, die im Versteck überlebten.

Das „Bürger-Engagement“ stützt sich auf Adressenlisten ehemaliger Kriegsgefangener, die von den Partnerorganisationen im Osten angelegt worden waren. Bislang ist es gelungen, über 1 Million Euro einzuwerben, zuletzt mittels einer gezielten Aktion zur Jahreswende. 2.550 russische, ukrainische, belorussische und armenische Zwangsarbeiter bekamen je 300 Euro, ein kleiner, aber, gemessen am Rentenniveau in ihren Heimatländern, doch sehr hilfreicher Betrag. In Armenien entsprechen 300 Euro einer Jahresrente, in der Ukraine einer halben Jahresrente.

In einer Reihe von Notfällen, etwa bei Operationen, konnte das „Bürger-Engagement“ zusätzliche Mittel mobilisieren. Die Initiative arbeitet im Rahmen der Organisation „Kontakte-Kontakty“, die sich um die Festigung der zivilgesellschaftlichen Beziehungen zu den Völkern Osteuropas kümmert.

Für das „Bürger-Engagement“ sind quasi hauptamtlich drei Personen tätig – ohne Entgelt. Ehrenamtlich ist auch die Arbeit der Übersetzer, meistens Studenten der Slawistik, die die umfangreiche, immer noch anschwellende Korrespondenz mit den ehemaligen Kriegsgefangenen übertragen.

Über die materielle Hilfestellung hinaus hat die Arbeit des „Bürger-Engagements“ auch ein wichtiges ideelles Resultat. Der persönliche Kontakt festigt bei den Überlebenden das Gefühl, nicht vergessen, sondern anerkannt worden zu sein.

Das „Bürger-Engagement“ schlägt Interessierten vor, einen Tagessatz des jeweiligen Einkommens zu spenden. Spendenkonto: Kontakte-Kontakty e. V., Kto. Nr. 306 55 99 006 oder 24 24, Berliner Volksbank, Kennwort: NS-Zwangsarbeiter.

CHRISTIAN SEMLER