Dieses spezielle redundante Sprechen

JUGENDFREUNDSCHAFT Logisch, oder? Der Autor Torsten Schulz und sein Roman „Nilowsky“

„Ich halte viel von Kontrapunkten. Bedeutendes erzählt man unprätentiös“

TORSTEN SCHULZ

VON LEA STREISAND

Nilowsky kann eigentlich alles. Er weiß auch alles. Zumindest macht er den Eindruck auf Markus Bäcker, den jugendlichen Ich-Erzähler des neuen Romans von Torsten Schulz. Nilowsky ist nämlich der Titelheld von „Nilowsky“, der Geschichte einer Jugendfreundschaft am Ostberliner Stadtrand zu Beginn der siebziger Jahre.

Der Sohn des Wirtes vom Bahndamm-Eck, Reiner Nilowsky, beweist seine Omnipotenz vor allem durch die Art, wie er spricht, wie er Sachen erklärt und plausibel macht. Am Anfang des Buches geht es um den Gestank des naheliegenden Chemiewerks, der dem neu Zugezogenen Markus Probleme bereitet. Nilowsky weiß Rat:

„Du musst diesen Gestank, den nach faulen Eiern, richtig einsaugen musst du den, und deine ganze Körperwärme, die ganze, die musst du zum Einsatz bringen, und dem Schwefelwasserstoff, dem bleibt dann nichts anderes übrig, als zu Wasser und zu Schwefeldioxid zu verbrennen. Das ist gesund und gibt dir Kraft. Und riechen tut es dann auch nicht mehr.“

Nilowskys Theorie bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als Scheiße in Gold zu verwandeln. Durch Imagination, durch eisernen Willen und vor allem durch diese spezielle Art redundanten Sprechens. Der Satzbau von Nilowskys Aussagen wird durch die ständigen Wiederholungen derart kompliziert, dass es seinem Gegenüber so große Konzentration abfordert, Subjekt, Prädikat und Objekt im Kopf in die richtige Reihenfolge zu bringen, dass der Inhalt zweitrangig wird. Nach dem Motto: Wer so kompliziert redet, der muss recht haben.

Der etwas luschige Ich-Erzähler Markus jedenfalls – intaktes Elternhaus, beste Aufstiegschancen, frisch zugezogen aus Prenzlauer Berg, ist tief beeindruckt von Nilowsky.

Torsten Schulz, der die Geschichte erfunden und aufgeschrieben hat, ist gelernter Drehbuchautor und seit 2002 Professor für Dramaturgie an der HFF Babelsberg. Er kann gut erklären und bringt jeden noch so verschachtelten Bandwurmsatz grammatikalisch korrekt zu Ende. Schulz berlinert leicht, spricht mit angenehm tiefer Stimme und sagt manchmal „ch“ statt „sch“.

„Ich halte viel von Kontrapunkten“, sagt Torsten Schulz. „Wenn eine Figur sehr charismatisch ist und brutal, dann braucht man daneben jemanden, der schwachbrüstig daherkommt. Etwas Bedeutendes erzählt man am besten unprätentiös.“

Torsten Schulz sitzt in seiner kleinen Küche in Prenzlauer Berg, weil sein Jüngster im Wohnzimmer Mittagsschlaf macht. Machen soll. Über den Hof sieht man auf die rote Backsteinfassade eines ehemaligen Industriebaus. Heute wahrscheinlich Lofts oder Ateliers.

„Beim Drehbuch bist du ja angewiesen auf die Vorgänge“, sagt Schulz, „in der deutschen Literatur gibt es immer noch dieses sehr Reflektierende, womit sich dann über unzureichende Handlung hinweggeschummelt wird. Das sehe ich oft, und das macht mir schlechte Laune.“

Seine Eltern mussten viel arbeiten, weswegen Torsten Schulz in den 1960er-Jahren als kleiner Junge teilweise durchgehend bei seiner Großmutter lebte. Diese Großmutter mit ihren vier Ehemännern und ihrem ungebrochenen Galgenhumor sei der Ursprung seiner literarischen Begeisterung für alte Frauen, sagt Schulz. „Diese Frauen mit ihren Jahrhundertbiografien – zwei Weltkriege, Hungerszeiten, politische Umbrüche –, die haben mich beeindruckt mit ihrer Mischung aus Verantwortungsgefühl, Sorgsamkeit, aber auch Bärbeißigkeit und Galgenhumor; Tugenden, die aus den Nöten dieses 20. Jahrhunderts erwachsen sind. Diese Frauen bringen ein Sprachmaterial mit, aus dem sich die Tonalität des ganzen Textes generiert.“

Dabei geht es Schulz um das sprachliche Berliner Lokalkolorit. Kitsch vermeidet er um jeden Preis. „Es gibt nichts Schlimmeres in meinen Augen als dieses ,Ickedettekiekemal‘-Berlinerisch“, sagt er. „Das ist was für Touristen. Schlichtweg Folklore.“ Schulz benutzt den „Slang“, wie er sagt, zur Charakterisierung der Figuren, die dadurch bärbeißig, humorig aber auch zärtlich melancholisch erscheinen.

Für Nilowsky sind die alten Frauen seine Ersatzfamilie. Nilowskys Mutter ist früh gestorben, der Vater ist Alkoholiker, der seinen fast erwachsenen Sohn regelmäßig windelweich prügelt, die geliebte Großmutter liegt im Sterben und Nilowskys große Liebe Carola hält Männer auf Abstand.

Während Nilowsky übrigens versucht, Markus durch komplizierte Grammatik zu beeindrucken, verlangt Carola seine Bestätigung, indem sie am Ende jedes Satzes fragt: „Logisch, oder?“

Der Ich-Erzähler Markus redet nicht viel. Er hat auch nichts zu sagen. Markus ist der geborene Mitläufer, das unbeschriebene Blatt, das sich von den anderen beeindrucken lässt und deren Sprechweisen übernimmt.

Im Gedächtnis bleiben die Szenen auf dem Friedhof. Denn wo viele Alte sind, wird viel gestorben. Wie in Schulz’ viel gelobtem Romandebüt „Boxhagener Platz“ ist der Friedhof auch hier ein alltäglicher Ort, an den sich mit zunehmendem Alter das Leben verlagert. Beziehungen enden nicht mit dem Tod. Für den, der überlebt, gehen sie weiter. Deshalb gießen die Jugendlichen Wasser auf die vereisten Gräber der Toten, damit deren Seelen Schlittschuh laufen können.

Torsten Schulz hat angefangen, Romane zu schreiben, um endlich mal eine Geschichte von vorn bis hinten selbst gestalten zu können – ein fertiger Film sieht am Ende nie so aus, wie der Drehbuchautor es sich beim Schreiben vorgestellt hat. „Ich wollte meine eigene Sprache profilieren“, sagt Schulz, „Beim Drehbuch ist das ja nicht so eminent wichtig. Abgesehen von den Dialogpassagen bleibt die Gestaltung der Imagination des Regisseurs überlassen.“

„Nilowsky“ ist ein Buch über die großen Themen Freundschaft, Liebe, Tod. Es ist ein Buch über den elementarsten Schritt zum Erwachsenwerden und die Ursache des Schreibens: die Suche nach der eigenen Sprache.

Torsten Schulz: „Nilowsky“: Klett-Cotta, Stuttgart 2013, 285 Seiten, 19,95 Euro