: Die Wut der Afghanen
AUSSENSICHT Das Ansehen der Deutschen hat nach dem Angriff von Kundus kaum gelitten. Afghanische Abgeordnete nutzen den deutschen Beschuss mittlerweile für eigene innenpolitische Manöver
■ Aufstocken: Das Bundeskabinett hat die Erhöhung der Afghanistan-Truppe auf bis zu 5.350 Soldaten gebilligt. Der Bundestag soll dem Mandat noch in diesem Monat zustimmen. Bislang liegt die Mandatsobergrenze für die Bundeswehr bei 4.500. Nun sollen 500 zusätzliche Soldaten entsandt werden; 350 werden als Reserve für besondere Situationen bereitstehen, etwa für die Absicherung der Parlamentswahl im September. Im Zuge von Umschichtungen sollen allein 1.400 deutsche Soldaten für die Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte abgestellt werden – statt 280 wie bisher.
■ Abziehen: Ab Mitte kommenden Jahres soll der Abzug beginnen. Auf ein Datum für den kompletten Rückzug will sich die Bundesregierung bewusst nicht festlegen. Der afghanische Präsident Hamid Karsai hat diese Fähigkeit für das Jahr 2014 in Aussicht gestellt. Das Mandat wird auch inhaltlich geändert: Der Schwerpunkt liegt auf der Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte. Damit soll die Voraussetzung geschaffen werden, dass Afghanistan innerhalb der nächsten fünf Jahre selbst für seine Sicherheit sorgen kann. (apn)
AUS KABUL THOMAS RUTTIG UND FARSHID HAKIMYAR
Die Stimmung gegenüber den Deutschen ist bislang kaum umgeschlagen. Auch nach dem Angriff auf zwei von Taliban entführte Tanklastwagen in Kundus bleibt die afghanische Kritik begrenzt. Sonst zeigt sich die Presse vor Ort gegenüber den Nato- und Isaf-Truppen kritisch, besonders bei Vorfällen mit zivilen Opfern. Dabei war es ihr durchaus nicht entgangen, dass die Bundesregierung ihre Position im Laufe der Affäre modifiziert hat.
Chefredakteur Sohail Sandschar von der liberalen Tageszeitung Hasht-e Sobh, die der angesehenen Unabhängigen Menschenrechtskommission des Landes nahesteht und von Linksintellektuellen sowie jungen Zivilgesellschaftsaktivisten gemacht wird, sagte der taz, seine Zeitung habe über den Vorfall intensiv berichtet, aber man habe die Deutschen „nicht blindlings“ kritisieren wollen. Er gehe davon aus, dass der Vorfall ein „Unfall“ gewesen sei, wie er „im Krieg vorkommen“ könne. Sandschar fügte aber auch hinzu, dass der unabhängigen afghanischen Presse die Mittel fehlten, selbständig recherchieren zu können.
Maßnahmen wie die Abberufung des zuständigen Kommandeurs Oberst Georg Klein, die Einleitung des Untersuchungsverfahrens gegen ihn sowie die in Deutschland aufgeflammte Diskussion über eine Exitstrategie haben Nasari Paryani zufolge, Chefredakteur von der Zeitung Mandegar, dazu beigetragen, dass „die Diskussion über diesen Fall sich in Afghanistan beruhigt“ habe. Den Rücktritt des damaligen Verteidigungsministers Franz Josef Jung nach dem Bombardement von Kundus hoben afghanische Medien als notwendige Konsequenz heraus. Die Zeitung Cheragh berichtete ausführlich über die Kompensationen, die die deutsche Seite für die Familien der Opfer ankündigte. Für viele Afghanen tut Deutschland damit mehr als andere Nato-Staaten nach ähnlichen Vorfällen.
Auch das afghanische Parlament hielt sich mit Kritik an den Deutschen zurück. Das Unterhaus debattierte den Vorfall intensiv und lud die Minister für Verteidigung und Inneres sowie den Geheimdienstchef vor die Kommission für Innere Sicherheit. Sie verlangte die Ablösung der lokalen afghanischen Sicherheitsverantwortlichen in Kundus, des Polizei- und des Geheimdienstchefs, so die Abgeordnete Rukia Nahil. Präsident Hamid Karsai ist diesen Forderungen bisher allerdings nicht nachgekommen. Auch das wird die Wut der Abgeordneten auf ihn lenken, nicht auf die Deutschen. Allerdings kritisierte die Abgeordnete Sediak Mubares aus Wardak gegenüber der taz die nach wie vor mangelnde Koordination zwischen internationalen und afghanischen Sicherheitskräften, die immer wieder zu einem „Durcheinander“ wie in Kundus führten. Ihre Kollegin Delbar Naseri aus Samangan ermahnte indirekt die Bundesregierung, die afghanischen Abgeordneten über den Fortlauf der Untersuchungen zu informieren.
Die Parlamentarier nahmen ausgerechnet den Provinzgouverneur von Kundus, Muhammad Omar, von ihrer Kritik aus. Das zeigt, dass die Affäre von Kundus auch in Afghanistan vorwiegend im Licht der Innenpolitik behandelt wird.
Omar steht der Karsai-feindlichen Mehrheit im Parlament nahe, die im Dezember und Januar die meisten von Karsais Kabinettskandidaten durchfallen ließ. Omar selbst spielt eine aufschlussreiche Rolle. Nachdem er zunächst die deutsche Reaktion auf die Tanklaster-Entführung in Schutz genommen hatte, schießt er sich derzeit auf die deutschen Truppen ein. Mitte Januar verlangte er, dass sich die deutschen Soldaten aktiver an „Militäroperationen gegen Terroristen beteiligen“ sollten. In diese Kritik stimmte nun der Kommandeur des örtlichen afghanischen Armeekorps, General Murad Ali Murad, ein. Er sagte einem afghanischen Privatsender, die Deutschen vermieden die direkte Konfrontation mit den Taliban, und das habe zu erhöhten Opferzahlen bei seinen Soldaten geführt. Die Deutschen sollten aus der Region abziehen und durch Amerikaner ersetzt werden.
Unterdessen berichten afghanische Medien unter Bezugnahme auf den Gouverneur des umkämpften Distrikts Chahr Dara in Kundus, dass dort bei einem Gefecht zwischen deutschen Soldaten und Aufständischen am vergangenen Freitag ein 14-jähriges Mädchen durch ein Leuchtspurgeschoss umkam, das ihr Elternhaus getroffen hatte.