: „Die Belastung ist immens“
Der Neuaufbau der deutschen Handball-Nationalmannschaft geht nur schleppend voran. Auch vor der am Donnerstag beginnenden EM in der Schweiz plagen Bundestrainer Heiner Brand mal wieder die Verletzungssorgen
INTERVIEW FRANK KETTERER
taz: Herr Brand, das Sportjahr 2006 wird ganz im Zeichen der Fußball-WM stehen. Beneiden Sie Ihren Bundestrainer-Kollegen Jürgen Klinsmann manchmal um die Aufmerksamkeit, die ihm und dem Fußball zuteil wird?
Heiner Brand: Nein. Fußball spielt sich einfach in anderen Dimensionen ab – und manchmal auch außerhalb der Rationalität. Das muss man akzeptieren.
Auf der anderen Seite erzeugt dieser Hype auch jede Menge Erwartungshaltung, um nicht zu sagen: Druck. Was würde wohl mit Jürgen Klinsmann passieren, wenn seine Mannschaft schon in der Vorrunde ausscheidet?
Nichts Besonderes. Außer dass es einem Riesenaufschrei in der Öffentlichkeit geben würde.
Was würde passieren, wenn Sie und Ihre Mannschaft bei der Europameisterschaft in der Schweiz in der Vorrunde ausscheiden?
Dann wäre sogar der Aufschrei deutlich leiser.
Weil die Erwartungen und somit der Druck im Handball deutlich geringer sind?
Ach, wissen Sie, mit dem Druck ist das so eine Sache. Druck erlegt man sich in erster Linie doch immer selbst auf. Da ist es nicht entscheidend, ob 1.000 Journalisten über einen berichten oder nur 50.
Nach der WM vor einem Jahr in Tunesien haben Sie kritisiert, dass Ihnen und der Mannschaft nicht von allen Seiten die für einen Neuaufbau notwendige Geduld entgegengebracht werde. Finden Sie Ihre Arbeit bisweilen ungerecht beurteilt?
Nein. Ich persönlich kann mit dem, was da manchmal gesagt und geschrieben wird, leben. Aber ich empfand es der Mannschaft gegenüber als ungerecht. Denn nicht jede Niederlage ist gleich eine Pleite. Und wenn es dafür auch noch Erklärungen gibt – und die gab es bei der WM nun mal –, dann kann man zwar von Niederlagen reden, aber nicht gleich von Katastrophen.
Leidet die neue Mannschaft unter den Erfolgen der alten?
„Leiden“ wäre zu hoch gegriffen. Aber die Anspruchshaltung an die Mannschaft ist in den vergangenen Jahren natürlich wesentlich gestiegen. Hinzu kommt die WM im eigenen Lande, die kurz vor uns liegt. Da werden teilweise Erwartungen erzeugt, die vielleicht nicht unbedingt der Realität entsprechen.
Gleicht Ihre Arbeit derzeit einem Paradoxon?
Ach, ich weiß nicht, ob man das so nennen kann.
Nun ja, Sie sollen eine neue Mannschaft mit jungen Spielern aufbauen – und gleichzeitig weiter gewinnen wie bisher mit der alten.
Auf diese Situation war ich eingestellt. Das ist nicht das Entscheidende.
Sondern?
Für mich entscheidender ist, dass der Neuaufbau ständig durch irgendwelche Verletzungen unterbrochen wurde und uns jetzt die Zeit davonzulaufen droht. Bis zur WM in Deutschland ist es zwar noch ein Jahr, aber wer den Terminkalender kennt, der weiß, wie wenig Zeit uns da noch zu Verfügung steht. Es ist ja nicht so, dass ich täglich mit der Mannschaft arbeiten kann.
Deshalb haben Sie kürzlich festgestellt: „2005 haben wir als Mannschaft keinen Schritt nach vorne gemacht. Wir haben noch keine Stammformation gefunden. Das ist für einen Trainer teilweise frustrierend.“ Hat es Sie überrascht, dass der Neuaufbau so langsam vorangeht?
Klar, damit konnte man ja auch nicht rechnen. Ich konnte lediglich mit dem Verlust von fünf Leuten rechnen. Aber ich hätte dann immer noch eine Mannschaft mit Daniel Stephan und Markus Baur als Führungsspielern gehabt und um die herum Spieler wie Christian Zeitz, Holger Glandorf und Pascal Hens. Tatsächlich aber hatte ich immer nur weitere Ausfälle. Stephan ist mittlerweile ganz zurückgetreten, Baur und seit Samstag auch noch Oleg Velyky fehlen bei der EM, zwischendurch sind auch Spieler wie Hens, Zeitz oder Glandorf ausgefallen. Wir haben auch mit dem Rest der Mannschaft nie so richtig was aufbauen können. Nach vorne hat uns das nicht gebracht.
Der Kreuzbandriss von Oleg Velyky im letzten EM-Test am Samstag scheint typisch für das Pech der Mannschaft. Sie wirkten sehr betroffen.
Die Verletzung von Oleg hat nicht nur mich, sondern das ganze Team mitgenommen. Wir waren gerade dabei, unser Spiel zu festigen – und Oleg war darin eine wichtige Stütze.
Warum ist das so? Ist es wirklich nur Verletzungspech?
Was soll es sonst sein? Ich kann da keine andere Behauptung aufstellen. Es ist natürlich etwas komisch, dass überwiegend wir davon betroffen sind – und Nationalspieler anderer Länder, die auch in der Bundesliga spielen, weit weniger.
Daniel Stephan, der ehemalige Welthandballer, steht mit seinen zahlreichen Verletzungen als eine Art Sinnbild für diese Misere. Kürzlich hat er den übervollen Terminkalender, in dem jedes Jahr ein nationales Handball-Großereignis steht, für den immer größer werdenden Verschleiß der Spieler verantwortlich gemacht. Sehen Sie das auch so?
Das kann sicherlich ein Grund dafür sein. Die Belastung für die Spieler ist in der Tat immens, eigentlich ist sie zu groß. Auf der anderen Seite gibt es eben auch Begehrlichkeiten.
Als da wären?
Die Bundesliga will nicht kleiner werden, weil, wenn man sie um zwei Mannschaften verringert, den Vereinen plötzlich die Einnahmen aus zwei Heimspielen fehlen. Der internationale Verband IHF wiederum möchte nicht auf eine WM verzichten, weil er das Geld braucht; der europäische Verband aus gleichem Grund nicht auf eine EM. Im Gegenteil: Die EHF hat gerade die Champions League erweitert, sodass drei oder sogar vier Vereine pro Nation teilnehmen, was der Sache gar nicht mehr gerecht wird. Da werden Vorrunden gespielt, wo jeder zuvor schon weiß, welche beiden Mannschaften sich qualifizieren. Sportlich hat das null Wert, aber für die Spieler bedeutet es sechs Partien mehr – plus drei Reisen in teilweise doch sehr abgelegene Länder. Auf der anderen Seite muss man aber auch sagen, dass Spieler und Vereine noch mehr auf die Gesundheit der Akteure achten und das entsprechende Umfeld schaffen müssen.
Hat die Handball-Bundesliga diesbezüglich Nachholbedarf?
Sie ist sicherlich nicht so weit, wie sie sein könnte. Wobei die Hauptverantwortung am Ende natürlich jeder Spieler für sich selbst trägt. Man muss sich als Spieler eben auch professionell verhalten und etwas für seinen Körper tun.
Herr Brand, wie oft im letzten Jahr haben Sie an die alte Mannschaft gedacht, die Vizeweltmeister und Europameister und Olympiazweiter wurde?
Es ist bestimmt nicht so, dass ich jetzt dasitze und denke: Mensch, wie war das toll mit der alten Mannschaft. Unabhängig davon aber freue ich mich jedes Mal, wenn wir uns mal wieder sehen. Wir hatten eine wunderbare Zeit zusammen – und das werde ich auch nicht vergessen.
Sie haben stets vom Teamgeist und vom Zusammengehörigkeitsgefühl dieser Mannschaft geschwärmt. Ist so etwas wiederholbar?
Das hoffe ich. Aber es ist natürlich auch eine Frage der Zeit. Mit der alten Mannschaft habe ich doch auch lang zusammengearbeitet, ehe die Spieler so eng zusammengewachsen waren, bis sie sich am Ende blind verstanden haben. Das ging doch auch damals nicht von heute auf morgen, sondern hat fünf, sechs Jahre gedauert.
Als Sie 1997 das Bundestraineramt übernahmen, hatte die deutsche Mannschaft gerade die WM-Qualifikation verpasst und spielte in Schulturnhallen. Was ist diesmal anders, um nicht zu sagen: besser?
Es gibt ein ganz anderes öffentliches Interesse. Unser letztes EM-Testspiel zum Beispiel haben wir am Samstag in Mannheim vor 14.000 Zuschauern ausgetragen – von so etwas hätten wir damals noch nicht einmal zu träumen gewagt. Also da hat sich sicherlich einiges verändert – und ich verfolge durchaus mit Stolz, dass wir mit unserer Mannschaft so viel für den Handball bewirkt haben. Von daher sind die Voraussetzungen sicherlich bessere. Wir müssen aber auch versuchen, all diese Erwartungen zu erfüllen.
Herr Brand, ist die Bundesliga noch die stärkste Liga der Welt?
Ach, immer diese Vergleiche. Ich habe dieses Prädikat noch nie so gemocht. Klar ist, dass es in Europa zwei starke Profiligen gibt, nämlich in Spanien und in Deutschland.
Welche Vorteile bringt das für die Arbeit des Bundestrainers?
Der Vorteil liegt darin, dass, wenn junge, deutsche Spieler in der Bundesliga zum Einsatz kommen, sie relativ schnell auch Kandidaten für die Nationalmannschaft sind. Der Nachteil ist, dass eigentlich kein junger deutscher Spieler zum Einsatz kommt – oder zumindest nur ganz wenige.
Und deshalb haben Sie unlängst erneut eine freiwillige Ausländerbeschränkung der Bundesligavereine gefordert.
Stimmt. Die muss kommen, ganz egal, wie sehr sich manche Bundesligisten dagegen wehren. Sonst wird es in Zukunft schwer für die Nationalmannschaft und den Bundestrainer, ganz unabhängig von meiner Person. Hinzu kommt, dass es ja nicht Sinn der Sache sein kann, dass sich alles in Deutschland und Spanien abspielt und die anderen Ligen langsam, aber sicher ausbluten. Also da gibt es schon durchaus gute Argumente für eine Ausländerbeschränkung – oder, um es positiver zu formulieren: für den Einsatz deutscher Spieler.
Allerdings haben Sie diese Forderung schon bei Ihrem Amtsantritt vor neun Jahren gestellt. Kam Ihre Botschaft diesmal an?
Wir haben natürlich den Nachteil, dass gerade die Vertreter der stärksten Vereine noch dagegen sprechen, sicherlich weil sie im Hinterkopf auch irgendwo das Ziel haben, die Champions League zu gewinnen. Es gibt aber auch schon Vereinsvertreter, die der Idee offen gegenüberstehen. Außerdem: Wenn andere Sportarten wie Basketball, Eishockey und sogar Fußball in diese Richtung arbeiten, wird der Handball auch nicht umhinkönnen, das zu akzeptieren.
Bis es so weit ist, haben Sie mit Oleg Velyky und Andrej Klimowets einen Ukrainer sowie einen Weißrussen in die deutsche Nationalmannschaft eingebürgert. Ist das ein Notfallprogramm oder ein Konzept für die Zukunft?
Nein, eine Option für die Zukunft ist das keineswegs, sondern wir müssen über die Nachwuchsarbeit im deutschen Handball zu neuen Nationalspielern kommen. Aber beide sind Deutsche geworden – und beide haben die entsprechende Qualität, Nationalspieler zu sein.
Herr Brand, DHB-Präsident Ulrich Strombach hat unlängst gesagt: „Eine Medaille bei der EM wäre schön, und ich halte sie auch für möglich. Doch sie ist diesmal keinesfalls ein Muss.“ Können Sie mit dieser Vorgabe leben?
(lacht) Ja, damit kann ich leben. Ich habe von meinem Präsidenten schließlich schon andere Vorgaben bekommen. Ich habe wirklich einen sehr guten Draht zu ihm, aber mit solchen Aussagen versteht er es immer wieder, mich unter Druck zu setzen.
Sie selbst haben vor der Weltmeisterschaft in Tunesien gesagt: Ich fahre nicht zur WM, um Neunter zu werden.“ Prompt wurde das Team Neunter. Was sagen Sie diesmal?
Oh, jetzt muss ich aber vorsichtig sein. Was ich damals sagen wollte, war: Wenn ich zu einer WM oder EM fahre, dann ist es doch klar, dass ich jedes Spiel gewinnen möchte, wohl wissend, dass das vielleicht nicht immer möglich ist. Den Ehrgeiz aber habe ich trotzdem, sonst brauchte ich nicht Trainer zu sein.
Ist Rang neun der Platz, den Deutschland im Welthandball derzeit einnimmt?
Das ist schwer zu sagen. Es ist alles so eng zusammen, da ist man schnell mal auf Platz neun gelandet. Deshalb sollte man den Stand einer Mannschaft nicht an einer einzigen Platzierung festmachen. Wobei ich schon zugeben muss, dass wir mit der Mannschaft von der letzten WM nicht absolute Spitze waren. Andererseits hätte so eine Platzierung ganz schnell mal auch die alte Mannschaft treffen können.
Was wäre, wenn Schwarzer und Zerbe und Petersen und Kretzschmar und Stephan bei der EM dabei wären?
Oh, das wäre nicht so gut. Petersen zum Beispiel trainiert doch gar nicht mehr. Aber im Ernst: Darüber mache ich mir keine Gedanken. Das Thema habe ich abgeschlossen. Die Jungs haben sich ihren Rücktritt verdient. Und wenn der ein oder andere sagt, Mensch, Heiner, ich würde gerne noch mal, dann können wir gerne darüber reden.