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Archiv-Artikel

Einfühlsamer Perfektionist

Kechiches Filme gehen manchmal zu perfekt auf, dramaturgisch wie sozial

Abdellatif Kechiches Eltern stammen aus dem Maghreb, er selbst lebt in Frankreich, seit er sechs Jahre alt ist. Dem sogenannten Cinéma beur, jenem Kino über und oft von jungen Franzosen nordafrikanischer Herkunft, das in den 80er und 90er Jahren von sich reden machte (unter anderem „Tee im Harem des Archimedes“, „Der Hass“), kann man schon seine ersten Filme nur teilweise zuordnen. Denn es geht in ihnen zwar um migrantische Lebenswelten im gegenwärtigen Frankreich. Kechiche macht allerdings kein wütendes Polit-, auch kein stilisiertes Popkino; sondern dreht stattdessen einfühlsame Dramen, die in erster Linie Schauspielerfilme sind; manchmal sogar in thematischer Hinsicht. So handelt sein Film „L’Esquive“ (2004), mit dem ihm der Durchbruch gelingt, davon, dass eine Schulklasse ein Theaterstück einübt und die Möglichkeiten und Grenzen von Rollenspielen erprobt.

Schön sind seine Filme, weil Kechiches Inszenierung den Akteuren, auch den Nebendarstellern, viel Raum lässt, weil sie ihre Aufmerksamkeit fast demokratisch auf alle Beteiligten verteilt. Gelegentlich kollidiert diese Offenheit mit einem Hang zur dramaturgischen Schließung, auch zum allzu Versöhnlerischen. In „Couscous mit Reis“ (2007), einem in vielen Details wunderschönen, breit angelegten Ensembledrama um ein Hafenrestaurant, geht am Ende alles ein wenig zu perfekt auf, in sozialer wie in narrativer Hinsicht. Andererseits: Zyniker gibt es im Weltkino genug, wortkarge Entfremdungsfilme sowieso; und Kechiche glaubt nicht nur an das Gute im Menschen, er hat auch ein Gespür für die Feinheiten und Aporien von Kommunikation.

Wie einige andere jüngere Vertreter des Cinéma beur, die zunehmend weniger Lust haben, als Interessenvertreter einer Bevölkerungsuntergruppe abgestempelt (statt schlicht und einfach als Teil eines multiethnischen französischen Kinos akzeptiert) zu werden, hat er in den letzten Jahren das thematische Spektrum seiner Filme erweitert. „Vénus noire“ (2010) ist ein ambitioniertes Historiendrama über eine schwarzafrikanische Sklavin, die im 19. Jahrhundert auf britischen Jahrmärkten vorgeführt und zum Objekt eines wissenschaftlichen Rassismus wurde. Mit dem sinnlichen „La Vie d’Adèle, Chapître 1 & 2“, für den er in Cannes die Goldene Palme erhalten hat, scheint seine Filmografie wieder eine ganz andere Richtung einzuschlagen.

LUKAS FOERSTER