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Archiv-Artikel

Abschied von vorgestern

Der Zeithistoriker war in der Bundesrepublik mehr als ein Wissenschaftler. Weil er der vergesslichen Republik ihre Herkunft vor Augen führte, wurde er zum Aufklärer und Sinnstifter. Doch dieses Rollenbild bleicht aus. Anmerkungen zu einer Tagung in Jena

VON STEFAN REINECKE

Der deutsche Zeithistoriker ist eine Erfolgsfigur. Selten zuvor gab es so viele interessante Dissertationen, gut ausgebildete Wissenschaftler und so vielversprechenden akademischen Nachwuchs. Der Ruhm des Zeithistorikers wurzelt in den 50er-Jahren, als er einer zwanghaft vergesslichen Gesellschaft ihre Vergangenheit unter die Nase rieb. Damit wurde er wie von selbst zum Nestbeschmutzer. Wer nüchtern die Quellen aus der NS-Zeit analysierte, fand sich unversehens in der Rolle des Gesellschaftskritikers wieder, der die Aufklärung der postfaschistischen Republik vorantrieb. Das war auch für die Zeithistoriker etwas Neues, denn zuvor hatten sie meist erzählt, warum die Geschichte logisch und zwingend zur gegenwärtigen Herrschaft geführt hatte.

Die Beschäftigung mit der Nazi-Zeit adelte den Zeithistoriker mit dem Ruf, Moral und Wahrheit zum Sieg zu verhelfen, und mit fragloser Bedeutung. Denn der Zeithistoriker war ein Experte in der Frage, die, wenn nicht jeden Bundesbürger, so doch die Eliten der Republik im Herzen bewegte: Wie kam es zu Auschwitz? Wie weit sind wir heute davon entfernt?

So lud sich das spröde Bild des Wissenschaftlers, der Dokumente wälzt, mit allerlei anderen Rollen auf: Er wurde zu einem Deuter, der dem Publikum das Rätsel erklärte, wie aus der Bundesrepublik, in der die Eliten aus der NS-Zeit fast bruchlos weitergemacht hatten, eine vorzeigbare liberale Demokratie geworden war. In gewisser Weise war der Zeitgeschichtler selbst ein Teil der Antwort. Denn wie kein Zweiter verkörperte er eine bundesrepublikanische Tugend: die Fähigkeit zur Selbstaufklärung.

So wurde der Zeitgeschichtler zu einem Sinnstifter, der bei TV-Diskussionen auftrat. Mal fungierte er als ein Verwandter des Richters, der die Aktenlage kannte, mal als ein Verwandter des Pastors, der in Moralfragen für besonders zuständig gilt.

Allerdings ist der bundesrepublikanische Zeithistoriker seit langem eine missverstandene, an die Seite gedrängte Figur. Die erste Demütigung erlebte die Zunft 1979, als die Republik das Schicksal der jüdischen Familie Weiss in der US-Soap-Opera „Holocaust“ beweinte. Manche Zeithistoriker kritisierten den reißerischen Stil, aber das half nichts, im Gegenteil. Warum brauchte man eine billige TV-Serie, um dem Publikum den Holocaust nahe vor Augen zu rücken? Warum hatten die Erinnerungsfacharbeiter jahrelang nichts Vergleichbares zu Stande gebracht? In dieser Frage steckte auch der Vorwurf, versagt zu haben, und die schmerzhafte Andeutung, eigentlich überflüssig zu sein.

Seitdem ist der bundesrepublikanische Zeithistoriker das Unbehagen in der Popkultur nicht mehr losgeworden. Er hegt den Verdacht, dass die Massenmedien, die er als Instrument für seinen Aufstieg nutzte, auch sein Grab werden. Auf „Holocaust“ folgte Mitte der 90er Steven Spielbergs „Schindlers Liste“, mit ähnlichen Debatten wie 1979, und Daniel Goldhagens Bestseller „Hitlers willige Vollstrecker“, ein grob gestricktes Buch, bei dem die Zunft die Hände über dem Kopf zusammenschlug und das trotzdem das Publikum anrührte. Die institutionalisierte Kränkung für jeden seriösen Zeithistoriker ist schließlich die berüchtigte Guido-Knopp-Factory, die mit effektheischendem Histotainment Rekordeinschaltquoten verzeichnet – während der Zeithistoriker frustriert über Drittmittelanträgen brütet.

Auf diesen wunden Punkt zielte der Soziologe Nathan Sznaider bei einem hochkarätig besetzten Symposion in Jena (siehe Kasten). Der Zeithistoriker, so Sznaider, fürchtet den Verlust seines Status in der Medienkultur. Hinter seiner Warnung vor der Verflachung bei Spielberg & Co stecke nur die Angst, dass sich in der Erlebnisgesellschaft seine Rolle verflüchtigt. In der Skepsis des Zeithistorikers vor Bildern, Gefühlen und Identifikationen, gegen Kommerz und Trivialität, verberge sich ein eigennütziges Interesse. Schließlich, so Sznaider, sei auch dieses Symposion nur ein Versuch der Zeitgeschichtler, zu beweisen, dass sie noch wichtig sind.

Diese Polemik erinnert an die Angriffe der Konservativen auf die Intellektuellen als neue Priesterkaste, die die Sinnproduktion für sich reklamiere. Der linke Intellektuelle der 70er-Jahre ist inzwischen mit dem Untergang der großen Erzählungen von der Bühne abgetreten – der Zeitgeschichtler ist von diesem Niedergang eher unberührt geblieben. Er blieb Autoritätsfigur. Sein Arbeitsgebiet waren nicht die Utopien, die sich in Luft auflösten, sondern die Gegenwart, die erklärungsbedürftig blieb. Die Jenninger-Rede, die Wehrmachtsausstellung, die Goldhagen-, die Walser-, die Mahnmaldebatte und die Zwangsarbeiterentschädigung zeigten stets, wie schwankend und leicht erschütterbar das Selbstbild der Bundesrepublik war, sobald es um die NS-Zeit ging. So blieb der Zeithistoriker als Experte eine gefragte Figur.

Erstaunlicherweise verpuffte Sznaiders Polemik in Jena. Einige widersprachen höflich, doch es fand sich niemand, der angemessen beleidigt war. Mag sein, dass die Argumente allzu bekannt waren – und Provokationen brauchen die Überraschung, um gut zu zünden. Vielleicht hat der Zeithistoriker sich inzwischen auch in einer unauffälligen Symbiose mit der populären Bilderkultur eingerichtet. Er rümpft nach wie vor die Nase über Knopp & Co und gibt sich unversöhnlich – wohl wissend allerdings, dass auch bei Events wie „Schindlers Liste“ ein Aufmerksamkeitsgewinn für ihn abfällt und die Knopp-Factory manchen Nachwuchshistoriker ernährt. Vielleicht gibt es sogar Synergieeffekte zwischen Massenkultur und Forschung. Spielbergs „München“-Film mag den Blick darauf lenken, dass die universitäre Zeitgeschichtsforschung bislang wenig Erhellendes zum Thema Terrorismus hervorgebracht hat.

Der Grund, warum Sznaiders Intervention ins Leere lief, liegt aber tiefer. Er zielt auf ein Rollenbild, das noch vorhanden, aber in Auflösung begriffen ist: auf den Zeithistoriker als moralische Instanz. Diese Rolle hat der Zeithistoriker lange und mit Bravour gespielt. Doch sie war an etwas gekettet, das langsam verschwindet: die fundamentale Verunsicherung der postfaschistischen Bundesrepublik über ihre eigene Herkunft. Mit der Historisierung des NS-Zeit schrumpft auch der bundesrepublikanische Zeithistoriker wieder zu normaler Größe. Er dankt als Sinnstifter ab und wird, in dieser Rolle, selbst zu einer Figur der Zeitgeschichte.

Diesen Befund stützt auch der Blick auf den Nachwuchs, so wie er in Jena auftrat. Der jüngere Zeithistoriker zieht in der Regel die sachliche Darlegung der These vor und betrachtet die heftigen Fehden, die sich die ideen-, politik-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Schulen der bundesrepublikanischen Zeitgeschichtler geliefert haben, leidenschaftslos. Er ist habituell konservativ und neigt dazu, älter zu wirken, als er ist. Sein Interesse, das größte Menschheitsverbrechen der Geschichte noch mal aufzuklären, hält sich in Grenzen. Lieber widmet er sich Adenauers Rentenreform, der Geschichte des Adels oder transnationaler Geschichtsschreibung. Er ist gescheit und ein wenig spröde. Die Aura des Bedeutsamen ist ihm fern. Ihm gehört die Zukunft.