: Spitzen aus Beton
ARCHITEKTUR Rudy Ricciotti liebt den Beton und die Polemik. Sein jüngster Bau, ein Museum in Marseille, wird im Juni eröffnet, in Paris führt eine Ausstellung in sein Werk ein
VON RUDOLF BALMER
Den wenigsten Kulturtouristen kommt es beim Rundgang durch die zahlreichen Museen in Paris in den Sinn, auch die Cité de l'architecture am Trocadéro-Platz in ihr Besuchsprogramm aufzunehmen. Das ist schade, denn so verpassen sie die Ausstellung, die sich mit dem südfranzösischen Architekten Rudy Ricciotti auseinandersetzt. Wer ihn entdecken will, muss in den Keller, wo neben Fotos einige Pfeiler und andere Teile sowie Gussformen von Ricciottis bisherigen Bauten wie moderne Skulpturen stehen. Solche Komponenten oder Entwürfe der modernen Architektur werden heute von Liebhabern und Kennern gesammelt wie Gemälde. Dass er bereits museumsreif ist, lässt Ricciotti amüsiert schmunzeln, überraschend findet er das aber keineswegs.
Diese Retrospektive gilt ebenso seinem bisherigen Werk wie seiner Persönlichkeit. Keiner seiner Zunftkollegen in Frankreich ist so umstritten, keiner ist selbst so streitlustig. Sein Pamphlet „Die Architektur ist ein Kampfsport“, erschienen im französischen Verlag Textuel, erhebt die Polemik zum Programm. Sein liebster Punchingball ist der „Minimalismus“ anderer prominenter Architekten, die er als „Salafisten“ traktiert, weil für sie „die Schönheit suspekt ist“. Ricciotti teilt Hiebe aus und muss selbst viele einstecken, die unter die Gürtellinie gehen. Als er 2006 Frankreichs großen Architekturpreis verliehen bekam, bespritzte er zum Dank den verdutzten Kulturminister Renaud Donnedieu de Vabre mit dem Champagner wie der Sieger eines Formel-1-Rennens. Bei der Eröffnung seiner Ausstellung soll das Aufsichtspersonal den prominenten Stargast wegen seines verwegenen Looks und wegen des Dreitagebarts mit einem Vernissagen-Buffetschmarotzer verwechselt und ihn um ein Haar rausgeworfen haben.
Ricciotti ist zu Lebzeiten bereits eine Legende. Das beweist auch der ihm gewidmete und in der Ausstellung gezeigte Film „L'Orchidoclaste“, der mit einer Art Liebeserklärung der Regisseurin Laetitia Masson beginnt: Als sie Ricciotti begegnet sei, habe sie gewusst, dass sie diesen Film über ihn drehen müsste. Äußerst geschmackvoll wählt sie als Titel zu seiner Charakterisierung ihres Hauptdarstellers das Wort „casse-couille“, was man taktvoll mit „die Nervensäge“ übersetzen könnte.
Die Retrospektive in Paris beweist aber, dass Ricciotti seinen internationalen Ruf als Architekt nicht gestohlen hat. Das Musée des civilisations de l'Europe et de la Méditerranée (Mucem), das am 7. Juni in Marseille eröffnet wird, ist wahrscheinlich die Hauptattraktion im Programm der europäischen Kulturhauptstadt Marseille-Provence 2013 und das neues Emblem im Hafengelände. Unter Ricciottis bisherigen Bauten sticht dieses Museum der Kulturen aus Europa und dem Mittelmeerraum wie sein Meisterwerk heraus, das auf viele Jahre hinaus sein architektonisches Konzept und technisches Können widerspiegeln wird.
Wer aus Deutschland weder ins Mucem nach Marseille noch zur bis 8. September dauernden Ausstellung nach Paris reisen kann, kann mit dem spektakulären Innenumbau des Nikolaisaals in Potsdam eine der frühen Arbeiten von Ricciotti besichtigen.
Ricciottis Karriere ist mittlerweile so solide wie sein Lieblingsmaterial. Er ist ein Virtuose beim Bauen mit Beton. Dieser Baustoff erlaubt ihm so kühne Konstruktionen wie den Fußgängersteg zwischen dem Mucem und der Saint-Jean-Festung in Marseille, für den er eine für Atomkraftwerke entwickelte Hochleistungsmischung verwendet. Er liebt es, an die Schwelle des materiell Machbaren zu gehen. Eine wichtige Stütze ist dabei sein Sohn Romain, der Ingenieur. Wie spielerisch er mit Beton umgehen kann, beweist die wie Spitzendekorationen aussehende Fassade des Mucem.
Nur ein Detail trübt zurzeit die Liebe zum Beton. Ricciottis Lieferant, die französische Zementfirma Lafarge, tritt für seinen Geschmack ein wenig zu stark als Sponsor der Ausstellung in Paris in Erscheinung. Dass sich andere mit seinen Lorbeeren schmücken, wurmt ihn gewaltig. „Ich schulde dem Betonfabrikanten nichts“, sagt er spitz.
■ „Ricciotti, architecte“, bis 8. September, Cité de l’architecture & du patrimoine, 1 Place du Trocadéro et du 11 novembre, Paris, Katalog 40 Euro