: Aigner spricht Handelsketten frei
HUNGER Bauern sortieren Früchte mit kleinen Fehlern aus. Das lässt die Agrarministerin in einer Studie über Verschwendung einfach weg
F-.W. GRAEFE ZU BARINGDORF, BAUER
VON JOST MAURIN
BERLIN taz | Bundesagrarministerin Ilse Aigner (CSU) hat eine neue Studie zur Lebensmittelverschwendung vorgestellt, die die Handelskonzerne freispricht. Zwar zwingen die Supermarktketten die Bauern dazu, zum Beispiel alle zu kleinen, zu großen oder auffällig gewachsenen Kartoffeln auszusortieren. Doch Aigner erklärt nach der Untersuchung von drei Forschungsinstituten ihres Ministeriums: „Die Nachernteverluste in der Landwirtschaft bewegen sich auf einem relativ niedrigen Niveau.“
So würden nur 3,3 Prozent des geernteten Weizens, 5 Prozent der Kartoffeln, 11 Prozent der Tafeläpfel und 4,2 Prozent der Speisemöhren verloren gehen. Schuld seien vor allem Krankheiten und Parasiten, die die Früchte in Lagerhäusern zerstören. Die Verluste durch die Mäkeleien der Supermarktketten ignoriert die Studie einfach.
Weltweit landet rund ein Drittel der weltweit produzierten Lebensmittel im Müll oder geht etwa beim Transport verloren: jährlich 1,3 Milliarden Tonnen. Das hat die UN-Ernährungsorganisation FAO errechnen lassen. Gleichzeitig hungern auf der Erde derzeit rund 870 Millionen Menschen.
Um die Verschwendung zu senken, muss die Politik wissen, wo genau wie viele Lebensmittel verloren gehen. Aber Aigners Untersuchung über die „pflanzlichen Lebensmittelverluste im Bereich der landwirtschaftlichen Urproduktion“ lässt einfach den Teil der Ernte weg, der etwa in die „energetische Verwertung“ geht oder dem Vieh zum Fraß vorgeworfen wird. Viele Kartoffeln beispielsweise, die den Supermärkten nicht gefallen, vergären in Biogasanlagen. Oder sie werden an Tiere verfüttert. Oder sie dienen den Bauern als Dünger. Auch die Knollen, die wegen technischer Probleme von der Erntemaschine zerstört oder gar nicht erst vom Acker aufgenommen wurden, zählen die Forscher nicht mit.
Von Verlust wollen die Wissenschaftler von Aigners Forschungsinstituten nur sprechen, „wenn das Agrarprodukt keiner alternativen Verwendung zugeführt werden kann“. Sie beschränken sich deshalb nach eigenen Angaben „auf die Ermittlung von Lagerverlusten“. Das verzerrt das Ergebnis erheblich. „Auf unserem Hof müssen wir 30 bis 35 Prozent der Ernte aussortieren, weil die Kartoffeln auffällig sind“, sagt Friedrich-Wilhelm Graefe zu Baringdorf, Kartoffelbauer in Nordrhein-Westfalen und bis vor Kurzem Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft. Dabei seien die meisten dieser Knollen essbar. Andere Betriebe hätten sogar noch höhere Quoten.
Wenn Kartoffeln in der Biogas-Anlage oder im Schweinefutter landen, seien das „keine quantitativen Ressourcenverluste“, begründen die Forscher, weshalb sie „Verschwendung“ so eng definieren. Doch dabei übergehen sie, dass sehr wohl Kalorien für die menschliche Ernährung verloren gehen. Wenn aus angeblich „mangelhaften“ Kartoffeln Strom generiert wird, stehen sie nicht mehr als Lebensmittel zur Verfügung. Und wenn sie verfüttert werden, verbraucht das Tier für seinen Eigenbedarf Kalorien und nur ein Teil der Energie aus der Knolle landet später etwa im Fleisch.