: Global handeln, lokal versagen
BAHN Das „Schwarzbuch Deutsche Bahn“ rechnet mit der Ära Mehdorn ab und warnt vor einer Fortsetzung des Börsenkurses
Ein Lokführer
VON RICHARD ROTHER
Bahnfahren kann wirklich entspannt sein: Man sitzt im wohl temperierten, nur mäßig vollen ICE, breitet seine Zeitung auf einem der Tische in der Mitte des Großraumabteils aus und sieht, hin und wieder von der Lektüre aufblickend, wenig bewohnte Landschaft vorüberfliegen – und ist, kaum ist die Zeitung ausgelesen, schon angekommen auf einer Strecke, für die die Bahn früher Stunden brauchte, etwa von Berlin nach Leipzig. Natürlich kann Bahnfahren auch nerven: etwa im vollen, engen und verspäteten Regionalzug von Berlin Richtung Ostsee, der ein verkappter Fernzug ist, oder in der seit Monaten überfüllten Berliner S-Bahn, die der Mutterkonzern Deutsche Bahn systematisch heruntergewirtschaftet hat. Dann ahnt man, warum das „Schwarzbuch Deutsche Bahn“, das der Bertelsmann-Verlag in diesem Jahr auf den Markt gebracht hat, eine lesenswerte Publikation ist – und man die Zeitungslektüre getrost aufs Allernötigste beschränken kann.
Auf 300 Seiten fassen die Autoren Christian Esser und Astrid Randerath, die für das ZDF-Magazin „Frontal 21“ arbeiten, die Bahnskandale der letzten Jahre – die Ära von Ex-Bahnchef Hartmut Mehdorn – zusammen: die Abwicklung des erfolgreichen Interregios, die Planung von fragwürdigen Prestigeprojekten wie Stuttgart 21 und den Neubau der Hochgeschwindigkeitsstrecke Nürnberg–Erfurt, die Sicherheitsprobleme von ICE-Achsen, die Bespitzelung der eigenen Mitarbeiter, das Ausquetschen der Berliner S-Bahn. Gezeichnet wird das Bild eines staatseigenen Unternehmens, das sich lieber in der Weltgeschichte – Stichwort: „globaler Logistikkonzern“ – herumtreibt und seine Bilanzen für den glücklicherweise vorerst gescheiterten Börsengang – „eine beispiellose Verschleuderung von Volksvermögen“ – aufhübscht, anstatt sich um das Naheliegende zu kümmern: für einen attraktiven, bezahlbaren und vor allem zuverlässigen Zugverkehr im ganzen Land zu sorgen.
In der Zitronenpresse
Beispiel Berliner S-Bahn: „Um die hohen Renditeforderungen des Mutterkonzerns DB AB zu erfüllen, haben die dienstbeflissenen S-Bahn-Manager ihren Laden ausgepresst wie eine Zitrone – auf Kosten von Sicherheit und Service“, so die Autoren.
Eine Rekordumsatzrendite von 16,2 Prozent und ein Betriebsergebnis von knapp 98 Millionen Euro habe die Berliner S-Bahn der DB AG 2009 bescheren sollen, wie interne Zielvorgaben des Konzerns belegten; bis 2016 sollte der Gewinn auf 125 Millionen Euro steigen. Um dies zu erreichen, sei massiv Personal sowie bei der Instandhaltung und Wartung der Züge gespart worden. Mit dem bekannten Ergebnis: Nach dem Bruch eines Rades an einem mit Fahrgästen besetzten Zug am 1. Mai 2009, bei dem nur durch Zufall niemand verletzt wurde, und nicht eingehaltenen zusätzlichen Kontrollen der Züge zog das Eisenbahnbundesamt im vergangenen Sommer die Notbremse und einen Großteil der Wagenflotte aus dem Verkehr. Seitdem herrscht im Berliner S-Bahn-Betrieb Ausnahmezustand, und eine Rückkehr zum normalen Fahrplan ist nicht absehbar.
„Schuld an dem Desaster hat allein der Börsengang“, zitieren die Autoren einen Berliner Lokführer. „Überall musste gespart werden, vom Ohrstöpsel in der Werkstatt bis hin zu den Prüfintervallen bei den Zügen.“ Manchmal seien auch Signalanlagen zugewuchert, weil die Bäume nicht mehr so häufig geschnitten würden. „Dann ist man froh, wenn das Laub im Herbst fällt, dass man sie wieder sehen kann.“ Und eine Bahnsteigaufsicht ergänzt: „Wir haben schon seit Jahren vor den schlechten Zuständen gewarnt. Keiner wollte es wahrhaben. Es musste folglich zu dem jetzigen Desaster kommen.“
Das ist eine Stärke des Buches: Beschäftigte der Bahn, zu ihrem Schutz zumeist anonymisiert, kommen darin zu Wort. Und sie erzählen aus ihrem Alltag: wie sie als Lokführer in Thermoskannen pinkeln, weil sie keine Zeit haben, aufs Klo zu gehen; wie die Zugbistro-Mitarbeiterinnen auf Trinkgelder angewiesen und Fehlbeträge in der Kasse aus eigener Tasche begleichen müssen; wie ihre Arbeit als Schaffner von Undervover-Kontrolleuren überprüft wird; wie sie als Fahrdienstleiter mit falsch konstruierten Fahrplänen, die Verzögerungen durch Bauarbeiten ignorieren, zurechtkommen müssen.
Der Staat und der Gewinn
Am Ende warnen die Autoren: „Der Börsengang kommt – auch wenn ihn keiner will.“ Auf lange Sicht werde die Bahn in jedem Fall an die Börse gehen, alles andere sei pure Wertvernichtung, habe der neue Bahnchef Rüdiger Grube klargemacht.
Was passieren könne, wenn private Investoren ein Mitspracherecht in der Führung eines ehemaligen Staatskonzerns bekommen, sehe man in England und Neuseeland. „Das jahrelange Auspressen der Unternehmen hatte den Aktionären satte Gewinne gebracht – auf Kosten von Arbeitsbedingungen, Infrastruktur und Sicherheit.“
Dafür haben die Autoren eine einfache Erklärung parat, die erfreulicherweise nicht moralinsauer ist: „Fairerweise muss man sagen, dass Investoren nicht so handeln, weil sie schlechte Menschen sind. Sie sind der Maximierung ihrer Gewinne verpflichtet und nicht dem Allgemeinwohl.“ Aber es gebe eine andere Instanz: den Staat, der nach wie vor hundertprozentiger Eigentümer der Deutschen Bahn ist. „Er muss nicht zum Wohle des Unternehmens handeln, sondern zum Wohle seiner Bürger. Und die sollten umfassenden Zugang zu Mobilität haben.“
Die politische Auseinandersetzung um die Zukunft der Eisenbahn in Deutschland ist noch längst nicht zu Ende, zumal sich auch die oppositionelle SPD von ihren Börsenplänen verabschiedet hat. Wer Fakten und Argumente sucht, um sich an dieser Debatte zu beteiligen, wird in diesem flüssig geschriebenen Buch viele finden.
■ Christian Esser und Astrid Randerath: „Schwarzbuch Deutsche Bahn“. C. Bertelsmann, München 2010, 304 Seiten, 19,95 Euro