ACHSE DES GESCHMACKS – VON TOBIAS RAPP : Wunderbar: offener Randstands-Pop
Guter Geschmack kann einen ja auch ins Abseits treiben. Das Londoner Produzentenduo Jonathan More und Matt Black alias Coldcut etwa. In den mittleren und späten Achtzigern machten sie kofferweise Geld, indem sie Künstler wie Lisa Stansfield in die Charts schoben und geistesgestörte Housetracks wie „Doctorin’ The House“ herausbrachten. Das langte ihnen jedoch irgendwann, und sie schoben mit ihrem Geld das Label Ninja Tunes an, mit dem sie es sich in der Nische für hiphopgeleitete Klangforschung bequem machten. Sie widmeten sich nur noch dem, was sie wirklich mochten, und das kann bei Plattensammlern ziemlich abgelegener Kram sein.
Daran ist nichts Schlechtes. Umso schöner, dass sie mit ihrem neuen Album „Sound Mirrors“ den Weg ins Populäre zurückgefunden haben – und das ohne ihren Hang zum Randständigen aufzugeben. Oder wie kommt man sonst auf die Idee, die Synthesizer-Pionierin und Avantgarde-Sängerin Annette Peacock genauso einzuladen wie den House-Sänger Robert Owens, den Noise-Blueser Jon Spencer und den alten Jazzbeatnik Amiri Baraka? Und das für eine Platte, die Peacock über ein 2Step-Schieber erzählen lässt, was sie alles „Just For The Kick“ tut? Das Wunderbare an „Sound Mirrors“ ist, wie es More und Black gelingt, für dieses knappe dutzend Gastmusiker eine Bühne zu bauen, auf der sie sich versammeln können, als habe man gerade eine Oscar-Zeremonie hinter sich gebracht. Das hat etwas von Privatolymp. Ist aber für jeden zugänglich.
Coldcut: „Sound Mirrors“ (Ninja Tunes)
Endlich: glitchender Techno-Jazz
Wenn in der elektronischen Musik Jazz als Referenz bemüht wird, heißt es in neun von zehn Fällen Achtung!: Distinktionsalarm! In Deckung, der gute Geschmack holt sich den Wohlklang ab! Eine besonders im House gern bemühte Strategie zur Loungekompatibilitätssteigerung. Was vor allem daran liegt, dass Jazz hier immer Synonym für einen bestimmten Sound ist. Ein atmosphärisches Element, Wohlfühl-Sample – Saxofonschluchzer hier, Akustikbassschlenzer da. Höchst selten jedoch wird Jazz als das behandelt, was es eben auch ist: das Prinzip Improvisation, prozesshaftes Musizieren.
Wie das funktionieren kann, zeigen nun Roman Flügel und Christopher Dell mit ihrem Album „Superstructure“. Ersterer eigentlich bekannt als eine Hälfte des Technoproduzententeams Alter Ego, die zuletzt mit ihrem Überhit „Rocker“ weltweit Tanzflächen in Schutt und Asche legten, Letzterer als Jazz-Vibrafonist und Dozent. Es mag an den Fortschritten der Musiksoftware-Entwicklung liegen, die mittlerweile einen spontaneren, intuitiveren und auch schlicht schnelleren Zugriff auf Sounds zulässt als in der Vergangenheit, vielleicht verstanden sich Dell und Flügel aber auch einfach gut.
Auf „Superstructure“ jedenfalls greift das sparsame und an Thelonious Monk erinnernde Geklöppel von Dell wie selbstverständlich in die Rhythmen und Klangglitchereien Flügels. Selbst das Fender-Rhodes-Piano klingt in diesem Dialog nicht nach Jazzfunk-Schmierlappigkeit.
Dell & Flügel: „Superstructure“ (Laboratory Instinct)
Ganz groß: Kulturzionisten-Jazzpunk
Für Geschmäcklereien war der New Yorker Jazz-Avantgardist noch nie zu haben – „Jazzsnob: Eat Shit“ hieß einer der Noise Freakouts, die er in den frühen Neunzigern mit seiner Combo Naked City in die Welt entließ. Einerseits. Andererseits ist Zorns gesamtes Schaffen natürlich auf einem geschmacksterroristischen Imperativ aufgebaut: von seiner Vorliebe für die Comicmusik Carl Stallings bis zu seinen Studien der Blue-Note-Jazzer aus der zweiten Reihe.
Oder eben Masada, Zorns kulturzionistisches Mammutprojekt. Vor etwas mehr als zehn Jahren rief er es ins Leben und hat mittlerweile ein mehrere hundert Stücke umfassendes Songbook für die diversen Masada-Gruppen – vom Streichquartett Masada Strings über Masada Voices bis zu Masada Guitars – geschrieben. Das Sextett Electric Masada ist die stromverstärkte Krachabteilung des Masada-Projekts, und die Doppel-CD „At The Mountains Of Madness“ präsentiert die Aufnahmen zweier Konzerte aus Moskau und Ljubljana aus dem Jahr 2004.
Hier verbindet sich seine stockbrutale Hardcoresensibilität mit Zorns Vorliebe für Loungesound und Surfrock – gespielt nach den Regeln jener scheinbar spontanen Cut-Up-Ästhetik, für die Zorns Cobra-Projekte so berühmt sind. Das hat nichts von jener Radikalität und Militanz eingebüßt, die Zorn in den frühen Neunzigern zu einer der Zentralfiguren postmodernen Musizierens gemacht hatte.
Electric Masada: „At The Mountains Of Madness“ (Tzadik)