piwik no script img

Archiv-Artikel

Remmi Demmi Deluxe

AUSGEHEN Tausende von jungen Menschen lassen jedes Wochenende im „Q-Dorf“ mitten in Berlin die Sau raus. Doch wie viel Dorf steckt in der Großraumdisco? Eine Spurensuche

„Wir hier im Q-Dorf sind eine Gemeinschaft! Nicht so schickimicki“

FRÄULEIN SÜSS, 16

Es ist Mitternacht, die Schlange auf dem Gehsteig am Kurfürstendamm wächst. Die gerade volljährig gewordenen Mädchen frösteln neben dem 50plus Fußballclub aus Hamburg. Jeder ist willkommen, die Türsteher weisen niemanden ab – wenn er nicht schon zu betrunken dort ankommt. Der erste Blick durch die Tür gibt einen Vorgeschmack auf das, was die Besucher erwartet: Wimpelfähnchen flattern über den Köpfen der Besucher, die gerade das Fliegerlied („Und ich flieg, flieg, flieg“) mitgrölen. Hier will man Spaß haben. Aber ordentlich.

An diesem Freitagabend gilt das Motto „Remmi Demmi Deluxe“ in der Diskothek Q-Dorf. Dorf? Mitten in Berlin braucht es ein Dorf, um zu feiern? Packt den Städter etwa nachts die Sehnsucht nach der Dorfgemeinschaft? Wird hier anders gefeiert als in anderen Clubs? Wo ist hier das Dorf?

Das Angebot ist jedenfalls schon mal größer, als man es wohl in einer echten Dorfdisco erwarten würde: Animateure im Affenkostüm und hautengen Ganzkörperanzügen verteilen kostenlosen Alkohol, Krankenschwestern posieren in knappen Uniformen, und in Federboas gehüllte Go-go-Girls geben sich alle Mühe, bei den männlichen Partygängern für eine gelöste Stimmung zu sorgen.

Discokugeln, weiße Ledersofas, Backsteinwände – Glitzer und rustikaler Landhausstil stehen nebeneinander, für jeden Geschmack gibt es den passenden Raum. In diesem Dorf ist alles erlaubt. So sieht das zumindest Fräulein Süß. Sie nennt sich selbst so, ihren echten Namen möchte sie nicht sagen. „Der ganze Laden kennt mich!“ Stolz stemmt das 16-jährige Mädchen aus Kreuzberg die Hände in die Hüften. „Wir hier im Q-Dorf sind eine Gemeinschaft!“, lacht sie. „Nicht so schickimicki.“ Die Haare kleben ihr im Gesicht. Gerade hat sie einen Typ klargemacht. Er kommt aus München. Oder Hamburg. „Ist ja auch egal.“

Die, die hierherkommen, suchen den Exzess. Dafür kommen sie aus der ganzen Republik und machen sich schön. Das Q-Dorfmädchen spielt mit seinen weiblichen Attributen: mit tief ausgeschnittenen oder zerrissenen Tops, Minikleidchen, hautengen Jeans oder Leggings. Neongrün, Neongelb oder -pink sind ihre Farben. Auch Animalprints wie den Zebra- oder Leopardenlook mag sie – frau will ja schließlich auffallen. An Frisuren ist alles dabei: Von lässig offen getragen bis aufwendig hochgesteckt. Aber immer schön gefärbt, am liebsten in Pink. Eine Dorfkirmes könnte nicht bunter sein.

Der Q-Dorfjunge macht es sich leichter: coole Sneaker, klassische stonewashed Jeans und Holzfällerhemd à la „Bauer sucht Frau“. Bei der Frisur gibt es für ihn nur eines: Gel, Gel, Gel! Daran hält sich auch der, den sich Fräulein Süß ausgesucht hat. Er packt sie an den Hüften, der Balztanz beginnt. Lasziv tanzt sie ihn an, streckt ihm ihren Po entgegen, während er sie fest an sich zieht. Irgendwann später sind sie verschwunden.

Nebenan klettern zwei Affen auf die Bühne und tanzen „Kasatschok“, einen traditionellen russischen Tanz, bei dem sie in die Hocke gehen und ihre Füße rhythmisch nach vorn schmeißen. „Moskau, Moskau, schmeißt die Gläser an die Wand“, dröhnt es. Als die beiden jeweils eine Flasche Wodka zücken, johlt das Publikum laut auf. Die Leute reißen die Münder weit auf, jeder will einen Schluck abbekommen.

Auch Dominik ist im Rausch. Er ist heute Abend hier, um „Frauen kennenzulernen“. Aber daraus wird nichts: Sein Freund Christian bricht auf der Tanzfläche zusammen, Alkoholvergiftung. Wie noch öfter in dieser Nacht fährt der Krankenwagen vor. „Scheißladen“ sagt der Rettungssanitäter. „Wir haben jede Nacht mehrere Einsätze wegen volltrunkener Jugendlicher.“ Aber das juckt die Q-Dörfler offensichtlich nicht. Sie genießen die Party, singen, grölen und tanzen, als gäb’s kein Morgen.

Damit der Rausch in dieser Nacht nicht endet, sind mehrere DJs im Einsatz. Einer von ihnen sieht in seinem roten Rüschenhemd aus wie ein 70er-Jahre-Erotikdarsteller. „Arm, aber sexy“ – dies gilt für Berlin ebenso wie für diesen Club. Arm der Stil, sexy die Selbstwahrnehmung.

Während gegen ein Uhr die Schlange draußen immer noch nicht kürzer geworden ist, kümmert sich Dominik um die Freundin von Christian, der auf dem Weg ins Krankenhaus ist. Traurig sagt die Berlinerin, dass sie es nicht aushalte, ihren Freund so zu sehen. Daher will sie ihn nicht ins Krankenhaus begleiten. Sie bleibt weinend vor der Disco zurück.

Steht das Treiben im Q-Dorf nun für dörfliche Geselligkeit oder für städtische Anonymität? Schwer zu sagen. Aber wenn man Gemeinschaft so versteht wie Fräulein Süß, wird wohl jeder im Q-Dorf eine finden – wenn auch nur für eine Nacht. AZIZ AYYILDIZ, LAURA BICKEL, TILL KELLERHOFF, RASHA NASR