Seltsames Gleichgewicht

Gestochen scharf und in allen denkbaren Grautönen: Der letztjährige Ingeborg-Bachmann-Preisträger Thomas Lang erzählt in seinem Roman „Am Seil“, wie ein Vater und sein Sohn sich in ihrer Todessehnsucht bestärken und sich schließlich einen Showdown auf einem Scheunenboden liefern

VON GERRIT BARTELS

Am Ende sind sie mit einem Seil verbunden: Vater und Sohn, Bert und Gert, die Helden in Thomas Langs Roman „Am Seil“. Sonst verbindet sie nicht viel, sie können sich nicht leiden, haben aneinander gelitten, doch hinsichtlich Lebensmüdigkeit und Todessehnsucht trennt sie tatsächlich nicht viel mehr als der erste Buchstabe ihrer Vornamen. In den Dachstuhl einer Scheune wollen sie, und da der Vater keine Sprossen mehr steigen kann, geht der Sohn voran und zieht den Vater mit Hilfe einer Draht- und Doppelseilkonstruktion hinterher. Warum er überhaupt in den Dachstuhl will, darüber verliert der Vater nicht viele Worte: „Ich muss da hoch.“ Für ihn ist es die Gelegenheit, von dort aus seinem Leben ein Ende zu setzen oder setzen zu lassen, und ihm scheint, als habe auch sein Sohn suizidale Gedanken.

Es bleibt offen, ob sie beide wohlbehalten wieder unten ankommen, der Sohn dem Vater seinen Todeswunsch erfüllt oder sie sich gar gemeinsam in den Tod stürzen: „Komm, Vater“, sagt der Sohn, und so endet der Roman. Thomas Lang bekam für dieses Schlusskapitel vor einem halben Jahr den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt, die Jury pries seinerzeit die Strenge und Präzision des Textes, das Thrillerhafte genauso wie den offensichtlichen, aber unaufdringlichen Symbolismus in diesem Vater-Sohn-Drama.

Das detaillierte Setting in der Scheune überfordert zwar das Vorstellungsvermögen und erschließt sich selbst beim aufmerksamsten Wiederlesen nur schwer. Doch Langs knappe, genaue Sprache erzeugt einmal mehr Spannung und suggeriert Transparenz, mit Sätzen im Präsens, die nicht raunen oder eine falsche Lebendigkeit vorgaukeln, sondern Bodenhaftung vermitteln, unterbrochen von Einschüben, in denen Vater und Sohn ihr verkorkstes Leben resümieren.

Der jetzt vorliegende Rest von Langs Roman ist der lange Prolog zum kurzen Geschehen in der Scheune, und er funktioniert nicht viel anders. „Am Seil“, die Erste, klapp – „Am Seil“, die Zweite, klapp: Wie auf einem Filmset geht es hier zu. Das Foyer des Altenheims, das Zimmer des Vaters, der Parkplatz, die Fahrt zum Hof, alles gestochen scharf, in den verschiedensten Schwarz-Weiß-Abstufungen, nur ohne die Technizität der Scheunenszene. Mit wenigen Worten schildert Lang die Lebenssituation seiner Helden, ihr Spannungs- und Nichtverhältnis, und kapitelweise wechselt er die Perspektive. Das Innenleben von Vater Bert, das seines Sohnes Gert.

Der Alte, einst Lehrer und Hofbesitzer (es ist seine Scheune, in der er sterben will), der im Altersheim mit einer Chorea-Erkrankung vor sich hin vegetiert. Der Junge, der durch einen sexuellen Übergriff mutwillig seine Karriere als Fernsehkomödiant zerstört hat; und der sich nach einem Autounfall, bei dem seine Geliebte auf dem Beifahrersitz starb, vollends gehen lässt, wie auch Bert bemerkt: „Die großen Tränensäcke hängen tief herab, ebenso die verdickte obere Lidhaut; wenn er den Kopf senkt, wirken die Augen wie geschlossen. Die Haut ist grau, die Wangen baumeln als fleischige Läppchen seitlich runter, der Mund sitzt, nun ja, wie ein hässliches Loch im Gesicht, umrahmt von schmalen, farblich kaum von der Haut unterscheidbaren Lippen, die überdies verrunzelt sind wie bei einer alternden Frau.“

Viel Platz aber, wenn nicht gar mehr, bekommt auch die Außen- und Dingwelt in diesem Roman. Die fünf Gänge des Altenheims, unterscheidbar nur durch die Kunst an den Wänden, die Bäume auf dem Parkplatz, die Straße, an der Berts Hof liegt: „Sie folgt, solange sie durch die Hügel führt, dem Relief, umfährt die steilen Stellen in Kurven mit engen Radien, schneidet nur minimal in die Landschaft ein.“

Die fest umrissene Umwelt hält diesen Roman im Gleichgewicht, und sie stellt die Balance zwischen Vater und Sohn her. Denn so wie das Wetter an diesem Tag ein wechselhaftes ist, so wechseln die Gefühle von Vater und Sohn: zwischen Nähe und totaler Distanz, zwischen kurzzeitig hervorbrechender Zuneigung und den Erklärungen für die gegenseitige Abneigung.

Geschickt erhält Lang diese Spannung zwischen den beiden und ihrer Umgebung, entwickelt er ihrer beider Kaputtheit, Todessehnsucht und unweigerliche Verbundenheit, wobei man sich fast mehr noch vom Tagesgeschehen und weniger von der unglamourösen Vergangenheit wünschen würde. Schön auch, wie Lang es vermeidet, an Vater und Sohn aktuelle Generationskonflikte festmachen zu wollen. Ihm geht es um die Archaik und Universalität einer solchen Beziehung, und die Gegenwart bildet nur die unvermeidbare Folie, auf der sich beide lebenslang behakelt haben. Lebendig ist sein Roman gerade deshalb, komisch zum Teil auch, trist mit Berechnung und willensstark und zielgerichtet sowieso. Denn wie immer diese Geschichte ausgeht: Väter und Söhne kommen nie voneinander los.

Thomas Lang: „Am Seil“. C. H. Beck, München 2006. 174 Seiten, 16,90 Euro