: „Es gibt keine Verbote, nur eine Ethik“
KAMBODSCHA Der Regisseur Rithy Panh gehört zu den Gewinnern von Cannes. Ein Gespräch über seinen Film „L’image manquante“, die Seelen von Tonpuppen und die Suche nach Formen, vom Völkermord zu erzählen
■ geboren 1964 in Pnom Penh. Als 1975 die Roten Khmer in Kambodscha die Macht übernahmen, wurde die Hauptstadt evakuiert, Panhs Familie wurde – wie so viele andere – zwangsumgesiedelt. Nach der Niederschlagung des Regimes 1979 gelang dem Jugendlichen die Ausreise nach Thailand und von dort nach Frankreich; die meisten seiner Familienangehörigen waren während der Terrorherrschaft gestorben. Seine Filmografie umfasst neben einigen Spielfilmen wie „Un barrage contre le Pacifique“ (2008) vor allem dokumentarische Arbeiten, die sich Geschichte und Gegenwart Kambodschas widmen: zum Beispiel „S-21, die Todesmaschine der Roten Khmer“ (2003) und „Duch, der Schmiedemeister der Hölle“ (2011). Sein autobiografisches Buch „Auslöschung“ ist vor Kurzem auf Deutsch bei Hoffmann und Campe erschienen (siehe taz vom 4. April 2013).
INTERVIEW CRISTINA NORD
Wie lässt sich im Kino von einem Terrorregime erzählen, von dem es fast nur propagandistische Bilder gibt? Wie von einem Genozid, der den Eltern und Geschwistern das Leben kostete? Der kambodschanische Filmemacher Rithy Panh entwickelt in seinem neuen, in Cannes mit dem „Prix un certain régard“ ausgezeichneten Film „L’image manquante“ (Das fehlende Bild) ungewöhnliche Strategien. Er füllt die Lücken, indem er Tonfiguren als Statthalter nutzt. So vergegenwärtigt er in nachgebauten, fast puppenstubenartigen Settings, was sich in den Jahren zwischen 1975 und 1979 in Kambodscha zutrug: Zwangsumsiedlung und Zwangsarbeit, Denunziation, Verfolgung und politischer Mord, schließlich eine gewaltige Hungersnot.
taz: Herr Panh, wie sind Sie auf die Idee gekommen, in „L’image manquante“ mit kleinen Tonfiguren zu arbeiten?
Rithy Panh: Am Anfang steht weniger die Suche nach der Form als das Vertrauen in das Sujet – ein Sujet, das mich historisch, psychologisch, künstlerisch nicht loslässt. Die Form kommt dann von alleine. Ich habe immer lebende Menschen gefilmt, und ich bin zunächst von dem ausgegangen, was ich zuvor gemacht hatte. Aber ich brauchte etwas anderes.
Warum?
Weil ich von meiner Kindheit spreche, von Menschen, die tot sind, von der Seele. Und was macht die Seele aus? Erde, Wind, Wasser, Feuer. Ich sagte mir also: Ich werde Männchen aus Ton anfertigen lassen. Statuetten haben eine Seele, das merkt man, wenn man sich Angkor Wat oder griechische Tempel ansieht. Und es ging auch darum, dieses Kind wiederzufinden, das mit Puppen spielte. Zugleich ist der Erwachsene, der aus diesem Kind hervorging, präsent. Es gilt, beide Perspektiven zu kombinieren, deshalb das Voiceover, das ich ja bisher auch noch nie verwendet habe. Bisher hatte noch keiner meiner Filme einen Off-Kommentar. Und ich wollte, dass die Statuetten unbeweglich bleiben, dass sie nicht animiert würden, ich wollte keine 3-D-Effekte, so dass es gut zu den Archivbildern passen würde.
Es ist die Geschichte Ihrer Kindheit, aber zugleich die der kambodschanischen Bevölkerung zur Zeit des Regimes der Roten Khmer. In welches Verhältnis setzen Sie Persönliches und Allgemeines?
Das ist eigentlich ganz einfach. Ein Genozid ist ja kein individuelles, sondern ein politisches Verbrechen. Ein Massenmord. Aber es ist merkwürdig, denn sobald man von 1,8 Millionen Toten spricht, sagt man so gut wie nichts. Denn man hat die Geschichte der Individuen nicht erzählt. 1,8 Millionen individuelle Leben, die abgebrochen wurden. 1,8 Millionen Liebesgeschichten. Und wenn jeder Tod 20 Trennungen bedeutet – von Familienangehörigen, von Freunden –, dann haben Sie Millionen von Trennungen. Das kann man nicht erzählen, deshalb bevorzuge ich das einzelne Schicksal: eine Person, ein Gesicht, einen Namen. Wie hat dieser Mensch diese Zeit erlebt? Je mehr man sich auf eine Person konzentriert, umso universeller wird es.
In Ihrem autobiografischen Buch „Auslöschung“ kommen Sie auf Claude Lanzmanns Filme zu sprechen, auf Alain Resnais’ „Nacht und Nebel“, auf die Bücher von Charlotte Delbo. Welche Rolle spielen diese Zeugnisse des Holocaust für Ihren Umgang mit dem Genozid in Kambodscha?
Ich weiß nicht, ob sie mich wirklich beeinflusst haben. Als ich die Filme von Lanzmann oder Resnais sah, konnte ich noch nicht richtig gut Französisch. Was ich spürte, war, dass es eine Kraft darin gab. In der Art, wie das Sujet behandelt wurde. Und auch wenn Claude Lanzmann sagt, bei ihm stehe das Wort im Mittelpunkt, so sind doch die Bilder sehr beeindruckend. Die Plansequenzen, der Zug …
… die Schwenks an den Orten, wo früher Lager waren …
Genau, das ist sehr radikal. Er lässt genug Zeit, damit man zuhört. Und Charlotte Delbo oder Primo Levi sind für mich wie Begleiter. Sie wiesen mir den Weg, sie redeten mir gut zu: „Keine Sorge, mach weiter, wir sind da, wir haben das schon gemacht, auch du wirst deine Geschichte erzählen, kämpf weiter, lass nicht nach.“ Es ist ja nicht einfach, die Geschichte eines Genozids zu erzählen. Es ist fürchterlich. Ich würde gerne etwas anderes tun, aber es ist meine Geschichte, ich muss es machen.
Ich habe gerade „Le Dernier des injustes“ gesehen, den neuen Film von Claude Lanzmann …
... Ah, er hat sich verändert...
Oh ja, er benutzt Archivmaterial!
Ich verstehe seinen Widerwillen gegen Archivbilder. Meistens sind sie eine allzu leichte Lösung. Aber ich verstehe auch, dass er sich ändert. Man muss frei sein. Wenn man sich ein kinematografisches Werk erarbeitet, dann gibt es keine Verbote, nur eine Ethik. Und trotzdem: Es ist gefährlich, extrem gefährlich, Archivbilder zu verwenden.
Sie machen es in „L’image manquante“ auch. Wie schützen Sie sich vor der Gefahr?
Es gibt keine Regel. Man kann eigentlich alles machen. Aber man kann nicht alles zeigen. Wenn man Dinge auf die falsche Weise zeigt, dann wird es leicht voyeuristisch und obszön. Ich weiß nicht, warum, aber das Bild des Todes besitzt eine Anziehungskraft, und im Fernsehen hat man, wenn man einen Toten sieht, manchmal das Gefühl, dass man den Tod nicht mehr sieht, nicht einmal die Gewalt; es bleiben nur Bilder, die vorüberziehen. Man konsumiert sie und vergisst, dass der Mensch, der stirbt, ein Mensch mit seiner Geschichte, seinem Leben, seiner Würde war.
Sie benutzen auch Propagandabilder der Roten Khmer.
Man muss lernen, diese Bilder zu lesen. Und wenn man sie mit den Erinnerungen vergleicht, dann sieht man ohnehin den Widerspruch. Man muss den Schlüssel für die Lektüre finden, und der liegt in der Montage, in der Art und Weise, wie man von einer Sequenz zur nächsten kommt. Ich gleiche die Bilder nicht an die 16:9-Ratio an, sondern benutze das Format der Catcher-Software. Und weil es Stummfilme sind, erzeuge ich nicht nachträglich eine Geräuschkulisse, sondern arbeite nur mit Musik und Voice-over.
Einige dieser Bilder stammen von einem Kameramann der Roten Khmer, entsprechen aber überhaupt nicht den Propagandaaufnahmen, weil sie ausgemergelte Menschen zeigen, von Hunger gezeichnet. Wie haben Sie diese Bilder gefunden?
Es ist merkwürdig, dass diese Bilder überhaupt aufbewahrt wurden. Eigentlich hätte man sie weggeworfen. Man sieht darin zum Beispiel nackte Kinder, während in den Propagandafilmen alle immer ordentlich angezogen waren. Wer hatte das gefilmt? Ich erinnerte mich daran, dass ich vor Jahren das Geständnis eines Kameramanns sah, der später im S-21-Lager hingerichtet wurde. Ich habe mir das noch einmal angesehen und im Gespräch mit einem anderen, noch lebenden Kameramann abgeglichen. Es ist eben viel Recherchearbeit!