: Wirtschaftsminister Glos hat keine Beweise
Die Förderung von Betriebsverlagerungen nach Osteuropa soll gestoppt werden, doch diese Förderung gibt es gar nicht
BRÜSSEL taz ■ Ein Brief des deutschen Wirtschaftsministers Michael Glos hat in Brüssel für Wirbel gesorgt. „Sehr geehrter Herr Minister Bartenstein“, schrieb Glos an seinen österreichischen Kollegen, dessen Land derzeit den Ratsvorsitz in der Europäischen Union führt. „Es geht um die Förderung von Betriebsverlagerungen mit Mitteln der EU-Strukturfonds und den damit einhergehenden Verlust von Arbeitsplätzen in den betroffenen Mitgliedstaaten.“
Vom AEG-Werk in Nürnberg, das der schwedische Electrolux-Konzern dichtmachen und nach Polen verlagern will, schrieb Glos nichts. Doch da der Minister aus Bayern stammt und in Nürnberg 1.700 Arbeitsplätze wegfallen sollen, war die Verbindung rasch hergestellt. In Brüssel wurden die zuständigen Kommissare gezielt zum Thema AEG befragt. Industriekommissar Günter Verheugen sagte, er habe sich bei der zuständigen Abteilung der Kommission erkundigt und keine Belege dafür finden können, dass Electrolux von Strukturförderung in Polen profitiere. „Es gibt klare Regeln für die Bewilligung von Strukturmitteln: Sie müssen neue Arbeitsplätze schaffen und dürfen keine bestehenden Jobs zerstören.“
Das bestätigte seine für Regionalpolitik zuständige polnische Kollegin Danuta Hübner. „Es gibt keine direkte Verbindung zwischen Firmenverlagerungen und EU-Förderung.“ Was Herr Glos fordere, sei schon jetzt Gesetzeslage. Die Kommission habe nichts gegen noch strengere Kontrollen, aber die Mitgliedstaaten wollten sich in ihre Förderpraxis nicht noch mehr hineinreden lassen. So hatte die Kommission zum Beispiel vorgeschlagen, mit EU-Hilfen subventionierte Unternehmen sieben Jahre an einen Standort zu binden, um Subventionsshopping zu verhindern. Das EU-Parlament hätte am liebsten eine Frist von zehn Jahren. Die Mitgliedstaaten aber wollen wie bisher fünf Jahre beibehalten.
Kommissionspräsident Barroso warnte davor, die EU-Förderpolitik nur mit der nationalen Brille zu betrachten. Innerhalb der erweiterten Union sei das Armutsgefälle enorm. „Ich appelliere an die Politiker der Mitgliedstaaten: Vermeiden Sie diese Art von nationalistischer Wertung“, warnte Barroso den deutschen Wirtschaftsminister. Deutschland solle vielmehr daran denken, dass es von den neuen Mit-gliedstaaten wirtschaftlich enorm profitiere.
Das sieht Minister Glos anders. In den letzten Monaten hatten deutsche Politiker mehrfach den hohen deutschen EU-Beitrag und das deutsche Staatsdefizit den günstigen Standortbedingungen in Osteuropa gegenübergestellt. Die Osteuropäer könnten sich die niedrigen Gewerbesteuern und attraktiven Förderangebote leisten, weil sie auf dem Umweg über das EU-Budget und damit auch mit deutschen Steuergeldern finanziert würden, lautete die Botschaft.
Mit seinem Brief erweckt der Wirtschaftsminister den Eindruck, „die Förderung von Betriebsverlagerungen mit europäischen Mitteln“ sei tägliche Praxis. Mit Beispielen allerdings kann sein Ministerium nicht aufwarten. Auf Bitte der taz, einen Fall aus einem beliebigen EU-Land zu finden, wo ein Unternehmen durch europäische Fördergelder zum Umzug in ein anderes Land der Union bewegt worden sei, musste ein Sprecher nach mehrstündiger Recherche aufgeben. Dem Ministerium sei kein solches Beispiel bekannt.
Es dürfte auch schwer zu finden sein. Denn bei der Entscheidung einer Firma, ihren Standort zu verlagern, spielen stets mehrere Faktoren eine Rolle – zuallererst die Lohnkosten. Sollte Electrolux am Standort in Polen tatsächlich von EU-Förderprogrammen profitieren, ist auch völlig unklar, wie das zu verhindern wäre. Schließlich kann man dem Unternehmen nicht die Nutzung von Straßen untersagen, die mit EU-Mitteln gebaut wurden, oder polnische AEG-Mitarbeiter von EU-Fortbildungsprogrammen ausschließen.
Das Ziel der europäischen Förderpolitik gerät über der AEG-Debatte völlig in Vergessenheit. Fast ein Drittel der Menschen in der Union lebt in Regionen, deren Pro-Kopf-Einkommen niedriger als 75 Prozent des EU-Durchschnitts ist. Um die Lebensbedingungen dieser Menschen an den EU-Durchschnitt heranzuführen, werden für die kommenden sieben Jahre mehr als 300 Milliarden Euro bereitgestellt. Alle Mitgliedstaaten haben sich auf dieses Ziel geeinigt und die Mittel bewilligt. Auch Deutschland.
DANIELA WEINGÄRTNER