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Archiv-Artikel

„Ohne Anwalt haben sie keine Chance“

In diesem Jahr rollt eine neue Klagewelle von Arbeitslosen ein, sagt Martin Behrsing vom Erwerbslosenforum

taz: Herr Behrsing, nur 15.000 von 700.000 Hartz-IV-EmpfängerInnen in NRW haben 2005 geklagt. Angesichts der großen Proteste gegen die Reform sind das relativ wenige.

Martin Behrsing: Die Quote ist gering. Es ist ja bekannt, dass nur wenige Menschen, die Sozialleistungen beziehen, ihre Rechte auch wahrnehmen. Genau darauf setzen ja auch die Arbeitsagenturen. Der Geschäftsführer der Bonner Agentur sagte mal zu mir: „Dann sollen die Leute eben klagen.“ Aber das ist furchtbar schwer.

Warum? Das Sozialamt gewährt doch Prozesskostenbeihilfe.

Ja, aber für diesen geringen Satz finden sie keinen Anwalt. Es gibt auch nur sehr wenige Juristen, die sich mit der neuen und sehr komplizierten Materie Hartz auskennen. Das Sozialgesetzbuch ist das schwierigste Rechtskapitel der Bundesrepublik. Das bürgerliche Gesetzbuch ist dagegen simpel. Ohne Anwalt haben die Menschen keine Chance.

Warum fällen die Gerichte nicht mal grundsätzliche Urteile? Im Augenblick entscheiden dutzende Sozialgerichte jeweils anders, wann zum Beispiel eine eheähnliche Gemeinschaft beginnt.

Es wäre wirklich zu wünschen, dass endlich mal Grundsatzurteile gefällt werden, dass endlich klar und durchschaubar ist, was eine eheähnliche Gemeinschaft ist. Aber die RichterInnen haben dazu keinen Mut. Dabei müssten sie nur einmal ans Bundesverfassungsgericht verweisen. Das hat schon mehrfach klar gestellt, was eine Ehe tatsächlich auszeichnet.

Und bis dahin definiert jedes Sozialgericht in NRW selbst, wann der Partner für den arbeitslosen Zimmergenossen oder Partner aufkommen muss?

Genau. Und die Arbeitslosen sind auf das Gutdünken der RichterInnen angewiesen. Die nordrhein-westfälischen Gerichte sind tendenziell konservativ und erklären Wohngemeinschaften per se für Bedarfsgemeinschaften, also zu Zahl-Gemeinschaften. Das Sozialgericht Saarbrücken hingegen hat gesagt: Selbst 27 Jahre Partnerschaft in einer Wohnung sind kein Indiz dafür, dass die beiden Personen in einer Notsituation füreinander aufkommen. Und in Hessen ist ein gemeinsames Bett auch kein Beweis.

Im vergangenen Jahr standen die so genannten Bedarfsgemeinschaften im Mittelpunkt der Klagen – was kommt dieses Jahr?

Auf jeden Fall die Frage nach einer angemessenen Unterkunft. Die Bundesagentur für Arbeit hat schon angekündigt, die Wohnungen von knapp der Hälfte aller EmpfängerInnen zu überprüfen. Der angespannte Haushalt setzt die Städte so unter Druck, sie sparen um jeden Preis. Und auch da widersprechen sich die Gerichte jetzt schon: Köln wendet noch das alte Wohngeldgesetz an, nachdem die Größe der Wohnung entscheidet, für andere ist nur der Mietpreis wichtig. Da werden viele Prozesse folgen.

Können sich Arbeitslose nur noch vor Gericht wehren?

Der Gerichtsweg ist nur eine Möglichkeit. Aber dieses Jahr werden wir wieder viele Aktionen in der Öffentlichkeit machen, am 25. März ist eine Großdemo, während der WM gehen wir auf die Straße.

Das Comeback der Montagsdemos?

Ja, genau so ist es. Wir versuchen das noch einmal.

INTERVIEW: ANNIKA JOERES