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Archiv-Artikel

Danke, dass wir gesprochen haben

DEBATTE Hoeneß? Drohnen? Islam? Euro? Wir haben zu allem eine Meinung. Aber wie bilden wir sie uns? Und auf welchen Kanälen diskutieren wir? Unser Autor hat ein Experiment versucht – vier Wochen auf Twitter und bei Jauch

1963

Jahr, in dem zum ersten Mal „Journalisten fragen – Politiker antworten“ im ZDF lief, die erste politische Talkshow im deutschen Fernsehen

Quelle: Studie „Politik als (Talk)Show? Politische Gesprächsrunden im Fernsehen“ von Peter Penjak

4

Gäste hat die perfekte Talkshow laut einer Studie. Sie sollte demnach 60 Minuten lang sein Quelle: Universität Koblenz-Landau

57

Prozent der Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren nutzen soziale Netzwerke täglich. Sie sind im Durchschnitt 12,7 Jahre alt, wenn sie sich zum ersten Mal einen eigenen Account einrichten. Am häufigsten nutzen sie Facebook, zum Verschicken von Nachrichten und zum Chatten mit Freunden Quelle: Medienpädagogischer Forschungsverband Südwest

37

Minuten dauert eine durchschnittliche Facebook-Sitzung Quelle: statista.com

6,67

Millionen Zuschauer hatte die Jauch-Sendung „Der Fall des Uli Hoeneß – vom Saubermann zum Steuersünder?“ vom 21. April 2013. Das war der bisherige Rekord Quelle: I&U TV Produktion

63

Jahre alt ist der durchschnittliche Zuschauer von Talkshows in ARD und ZDF Quelle: statista.com

VON ARNO FRANK

Lebten wir in der Kreidezeit, der politische Talk wäre so etwas wie ein Brontosaurus. Tonnenschwer würde er, gemächlich mit seinem mächtigen Schwanz wedelnd, auf seinen dicken Beinen durch die Sümpfe der Medienlandschaft stapfen, nur hin und wieder den fast niedlichen Kopf auf seinem endlosen Hals senkend, um ein paar Themen zu rupfen und versonnen darauf herumzukauen. Es ist genug für alle da. Wie der Brontosaurus tritt der Talk in Herden auf, und er tut es mit Aplomb. Und doch spürt er – wir leben in der Kreidezeit –, dass sich das allgemeine Klima verändert, dass es womöglich zu Ende geht.

Erste Vertreter seiner Gattung sind bereits ausgestorben, weitere werden folgen, über Sinn und Zweck des Genres wird offen diskutiert. Und schon verdunkelt sich bisweilen der Himmel. Ein wolkenhaftes Gewimmel neuer Lebensformen taucht auf, flatterhafte Stechmücken, frech, wendig und kurzlebig. Jede einzelne ein Wille, jede einzelne eine Meinung. Jede ein Tweet. Es sind – wir leben in der Kreidezeit – die Sendboten einer Zukunft, die vielleicht noch nicht ihnen selbst gehört, sondern ihren Nachkommen.

Noch aber existieren beide Formen medialer Debattenkultur nebeneinander. Das Alte hat den Platz noch nicht geräumt, das Neue ihn noch nicht eingenommen. Es kommt sogar vor, dass die alten Medien mit den neuen Medien gemeinsame Sache machen – etwa beim „Second Screen“, wenn der Fernsehtalk parallel in den sozialen Netzwerken kommentiert wird. Wenn das Fernsehen sich in rührender Mimikry ins Internet begibt, um dort all die modernen und vor allem jungen Leute wieder abzuholen und heimzuführen, die es doch längst an die digitale Welt verloren hat.

Im Kern handelt unser kleines evolutionäres Drama von der Hoheit darüber, wo in unserer Gesellschaft die Debatten geführt werden – und auf welche Art und Weise. Wo werden relevante Themen wie verhandelt?

Kurzum: Wo diskutiert man schlechter? Bei Twitter oder Jauch?

Die Antwort hängt auch von der Standortfrage ab, und hier scheint der Saurier deutlich im Vorteil zu sein. Sonntag für Sonntag holt Günther Jauch die Leute dort ab, wo ihr Alltag sich zu ruhiger Vollendung rundet. Um 21.45 Uhr. Es ist ein phänomenaler Startplatz, gleich nach dem „Tatort“, aus dem das Publikum sanft hinüberdämmern darf zur Talkshow. Zuschauerinnen und Zuschauer im postkriminellen Halbschlaf. Es war eine lange Woche, es wird eine lange Woche. Und war es nicht ein schönes, aber allzu kurzes Wochenende? Wer jetzt noch umschaltet, hat keines mehr.

Also weiter mit Jauch und gesellschaftlichen Themen, über die geredet wurde und kommende Woche hoffentlich noch geredet wird. Dies ist das Angebot, das Jauch macht. Schlaue Leute sagen schlaue Sätze, die der Zuschauer wie Wasserdampf in sich aufnehmen kann, um sie bei nächster Gelegenheit über einem entsprechenden Gespräch abregnen zu lassen.

Wie steht’s um die Moral unserer Reichen? „In jedem Menschen wohnt sehr viel Gutes, aber natürlich auch das Dämonische.“ Hat der Erwin Huber gesagt.

Soll unser Bildungswesen umgebaut werden? „Ich will nicht, dass wir jetzt hingehen und nur eieiei und heiteitei machen.“ Hat der Richard David Precht gesagt.

Werden wir in Krankenhäusern abgezockt? „Chirurgen wollen operieren, das ist in ihrer DNA!“ Hat die Sonia Mikich gesagt.

Tragen wir Schuld am Tod von Lohnsklaven? „Wir dürfen dieses soziale Gift nicht länger importieren.“ Hat der Ranga Yogeshwar gesagt.

Es ist durchaus nicht unwichtig, wo diese Sätze ausgesprochen werden. Deshalb wird der Gasometer in Berlin-Schöneberg als „Location“ auch so beflissen in Szene gesetzt. Ein Industriedenkmal, das nach dem Ende dieser Industrie in einen pseudoparlamentarischen Ort verwandelt wurde. Nicht zufällig wird dort unter einer transparenten Kuppel debattiert, wie sie auch den Reichstag krönt. Ein bergendes, umfassendes Symbol, das in der Architektur seit dem Pantheon in Rom staatliche Würde signalisieren soll, wie auch „Günther Jauch“ sich staatstragend gibt. Was hier gesagt wird, behauptet Gewicht. Dazu trägt ein Publikum bei, das stellvertretend für das Publikum vor den Bildschirmen im Saal sitzt und sich beizeiten durch Applaus oder empörtes Raunen bemerkbar macht. Hin und wieder fängt die Kamera einen interessierten Zuhörer ein: Denn siehe, er ist ein Mensch wie du.

In dieser ausgeleuchteten Arena wird, wie in der Antike, performativ kommuniziert. Was zu Hause ankommt, ist das gesprochene Wort – aber auch die Tatsache, dass Erwin Huber dieses seltsame Lächeln nicht aus dem Gesicht bekommt oder die Unternehmerin Sina Trinkwalder sich die Lippen grellrot geschminkt hat. Das voyeuristische Mustern derer, die da sitzen und Sätze von sich geben, gehört zu den verstohleneren Vergnügungen des Zuschauers. Es steht ihm frei, daraus Rückschlüsse zu ziehen und Richard David Precht anziehend, Dirk Niebel aber abstoßend zu finden.

Was wird gesagt, wenn jeder etwas sagen kann?

Twitter erscheint dagegen so fremd und paradox wie eine außerirdische Lebensform, die sich herkömmlichen Erfahrungen entzogen hat. Das beginnt schon mit der Standortfrage, weil Twitter den klassischen „Standort“ zugunsten einer digitalen Allgegenwart hinter sich gelassen hat. Als soziales Netzwerk ist es nirgends und zugleich überall, wo es einen Anschluss ans Internet gibt. Twitter findet nicht sonntags um 21.45 Uhr statt. Sondern immer.

Twitter kennt auch keine redaktionelle Themensetzung, von der sich der passive Zuschauer überraschen oder enttäuschen lassen kann. Diese Funktion übernimmt ein Doppelkreuz namens Hashtag (#), das einer Zeichenkette vorangestellt ist und die Funktion eines Filters übernimmt. Hier kann sich der Nutzer, der alles andere als ein passiver Zuschauer ist, ganz autonom seine Themen selbst setzen, wie es etwa die Nutzerin Anne Wizorek mit #Aufschrei getan hat.

#Aufschrei ist übrigens ein performativer Begriff, #Sexismus wäre womöglich unbeachtet unter dem Radar des Schwarms hindurchgeflogen. Das ist deshalb wichtig, weil Twitter gewöhnlich auf performative Kommunikation verzichtet. Hier ist alles Wort, maximal 140 Zeichen.

Ich weiß nicht, ob der Absender grinst oder sich schminkt, ob er gerade im Bett liegt oder im Zug sitzt. Was gut ist, weil es egal ist. Zwar gibt es Nutzer, die die Aufmerksamkeit ihrer „Follower“ wie Kapital anhäufen – aber echte Autoritäten, wie sie sich in Talkshows inszenieren, gibt es nicht. Eine geistreiche Bemerkung kann wie die dümmliche Zote eine erstaunliche Karriere machen, ganz gleich, von wem sie kommt.

Twitter ist der Raum, in dem das platonische Ideal eines herrschaftsfreien Austauschs von Argumenten verwirklicht scheint. Kein eingreifender Moderator, keine begrenzte Sendezeit. Es kommt, wie bei aller Technik, darauf an, was man draus macht.

Was wird gesagt, wenn jeder etwas sagen kann? Findet überhaupt so etwas wie eine Debatte statt? Wodurch unterscheiden sich die Sätze, die bei Twitter gepostet werden, von den Sätzen, die bei Jauch fallen?

Dazu lohnt es, Twitter und Jauch parallel zu konsumieren. Zumal Jauch in den 60 Minuten, die er auf Sendung ist, unter #Jauch auch auf Twitter verfolgt wird.

Bei Jauch sind die glänzendsten Sätze immer jene, die ganz gewiss nicht aus der Diskussion heraus entstehen. Es sind Sätze wie rhetorische Torpedos. Kein Gast kommt zu Jauch, ohne sich nicht vorher damit munitioniert zu haben. Immerhin hat er es stets mit einem feindlichen Geleitzug zu tun. Der Talk ist, wenn nicht paritätisch, so doch meistens ausgewogen besetzt. Und wenn er nicht ausgewogen besetzt werden kann, gibt es immerhin noch einen Bösewicht.

Start.

In der Sendung „Billigkleidung aus Bangladesch – sind wir schuld am Tod der Näherinnen?“ vom 26. Mai 2013 waren sich im Prinzip alle einig, dass „wir“ keineswegs die Schuld am Tod fernöstlicher Textilarbeiterinnen tragen wollen und sollen. Als Repräsentant einer Marktwirtschaft, die von Billiglohnländern profitiert, war „Schnäppchenkönig“ Thomas Tanklay geladen, ein Großhändler für Restposten. Ein Hehler, aber immerhin ein Hehler mit Namen und Gesicht. Was sich von Twitterern wie „lapetitesoph“, „filzflausch“ oder „allbesserwisser“ nicht behaupten lässt. Überhaupt fühlt man sich während der Sendung bei Twitter wie früher in der letzten Reihe des Klassenzimmers, wo feixende Schüler den Unterricht verweigern, um an Papierfliegern zu basteln oder sich Zettelchen zuzuschieben.

Besonders deutlich wurde das in der Sendung „Notendruck, Sitzenbleiben – weg mit der alten Schule?“ vom 5. Mai 2013, deren Thema offenbar dem Buch „Anna, die Schule und der liebe Gott“ geschuldet war. Geschrieben hatte das der telegene Philosoph Richard David Precht, der denn auch entsprechend im Fokus der Twitterer stand. So schrieb „hollsteinM“ an dem Abend mokant: „Was, das Bildungsniveau ist hier zu gering? Kann nicht sein, wir haben doch alle Bücher von Precht gelesen!“

Ein anderer Nutzer namens „mwoodtli“ schickte nicht nur einen Link zum Verriss des Buches in der FAZ, sondern lieferte gleich noch ein Zitat dazu: „#precht Diese durchgängige intellektuelle Schlampigkeit entwertet alle richtigen Beobachtungen (via FAZ J. Kaube).“

Twitter vs. Jauch

■ Das ist Twitter: Ein Mikroblogging-Service, gegründet 2006. Der Wert bemisst sich auf 9 Milliarden US-Dollar. Weltweit haben 485 Millionen Menschen einen Account, über 200 Millionen davon nutzen Twitter aktiv, also mindestens einmal pro Monat. Die meisten Follower hat Justin Bieber mit 39,9 Millionen. Unter den Top 10 ist auch Barack Obama.

■ Das ist Jauch: Eine Talkshow in der ARD. Jeden Sonntag um 21.45 Uhr diskutiert Günther Jauch live mit Gästen über ein aktuelles politisches Thema. Die erste Sendung wurde am 11. September 2011 ausgestrahlt. Durchschnittlich 4,84 Millionen Menschen schauen die Sendung, das ist ein Marktanteil von 16,6 Prozent.

■ Jauch bei Twitter: Unter dem Hashtag #Jauch twittern Fernsehzuschauer parallel zur Sendezeit, im sogenannten Second Screen.

■ Twitter bei Jauch: Nur ein Mal wurde live in der Sendung getwittert. Im Mai 2012, als der damalige Geschäftsführer der Piratenpartei Johannes Ponader mit seinem Smartphone bei Jauch saß.

Auch so ein Satz wie ein Torpedo, Treffer, versenkt – bei Jauch dagegen konnte Precht wie in einem friedlichen Paralleluniversum weitgehend ungestört seine Vorschläge ausbreiten, ohne auf seine „Schlampigkeit“ angesprochen zu werden.

Ein Beispiel aus der Sendung „Patientenfalle Krankenhaus – unnötige OPs für satte Gewinne?“ am 12. Mai 2013. Da diskutieren Vertreter von Politik, Versicherungen, Ärzteschaft und Betroffene über das Problem, dass der Markt mit dem Gesundheitswesen schlecht zu vereinbaren ist. Die Rolle der Hexe fällt diesmal Andrea Grebe zu, der Geschäftsführerin der Vivantes-Kliniken. Während sie noch zu erklären versucht, warum einst Fallpauschalen für Ärzte eingeführt wurden, setzt der User „schreiblockade“ den Tweet ab: „Ich weiß nicht, warum. Aber die Dame von Vivantes ist mir seit dem ersten Wort unsympathisch.“

Die Journalistin Sonia Mikich hat das Buch „Enteignet. Warum uns der Medizinbetrieb krank macht“ geschrieben und schildert im Fernsehen als Betroffene gerade ihre entsetzlichen Erfahrungen, als der User „sparschaeler“ zu Protokoll gibt: „meine krankenhaus erfahrungen sind völlig anders“. Na denn.

Vielleicht war aber #Gesundheit einfach kein Thema für eine doch eher jugendliche Netzgemeinde, für die Realweltprobleme wie Prostatakrebs oder künstliche Hüftgelenke noch in weiter Ferne liegen. Unter #Gesundheitssystem, #Krankenhaus oder #Vivantes ist bei Twitter nichts los. Das Thema kommt bei Twitter überhaupt nur auf wie ein lustloses Lüftchen, weil es bei Jauch diskutiert wird. Stattdessen gibt es: überwiegend zustimmende Tweets zu einer Cyberattacke gegen die niederländische Regierung, überwiegend ablehnende Tweets zu Sigmar Gabriels Forderung nach einem Tempolimit auf Autobahnen.

Was Jauch angeht, so wurde aus der „Debatte“ bei Twitter sehr schnell eine verdrossene Metakritik an der Sendung, wie sie etwa „raketenmensch“ formulierte: „Wie wärs Sonntag Abend eigentlich mal mit Polit-Talk statt mit Boulevard, #DasErste? #Jauch Wurde er dafür nicht eingestellt?“ Das bleibt so im Raum stehen, Gegenvorschläge gibt es keine.

Ansonsten dominiert im Netz, wie immer, eine hämische Klangfarbe: „Hoffnung für Schulversager: auch mit 5en im Zeugnis man kann später immer noch #Jauch oder #Precht werden!“ lautete der Beitrag von „ghost_7“. Ein „whistleblower“ überschwemmte die Debatte gar mit besoffenem Spam: „Wie empfinden FRAUEN eigentlich die Schwulen-Ikone und Quasselstrippe #Precht? Besser als Bernard Henri Levy? #BHL“.

Typisch Jauch: „Wir müssen doch mal sortieren“

Die Aufmerksamkeit der Gäste fixiert sich auf den Moderator wie auf einen verhassten Lehrer. Dabei ist Günther Jauch eigentlich der Fixpunkt und geheime Verbündete der Netzgemeinde: Selbst das abstrakteste Problem biegt er zuverlässig auf eigene zurück, als wäre er ein Twitterer: „Also, ich habe mir auch mal das Bein gebrochen?“ An anderer Stelle fragt Jauch einen zurückgestellten Jungen nassforsch: „Hast du dich als Sitzenbleiber als demotivierter Ober-loser empfunden?“ In seinem Pöbelpotenzial ein durchaus twitterfähiger Satz.

Allein es nützt ihm nichts, nicht bei Twitter. Als es um das Problem von Kleidung aus Billiglohnländern geht, will „diemona37“ wissen: „Wo wurde der Anzug von Herrn #Jauch produziert? Maßgeschneidert? Woher kam der Stoff?“ Ähnliches gilt für Dirk Niebel, an dessen schierer Präsenz sich viele Tweets entzünden. Während der Minster für Entwicklungshilfe noch beteuert, „ich bin hier nicht der Vertreter der Textilindustrie, im Gegenteil“, hagelt es schon hämische Kommentare von Leuten, die sich daran erinnerten, dass der Minister einmal zu Privatzwecken einen unversteuerten Teppich aus Afghanistan einführen wollte.

Ein „danielm2601“ twittert noch Nachvollziehbares: „In der Welt Gewerkschaften stärken. In Deutschland Gewerkschaften zurückdrängen. #FDP#Niebel#Jauch“, ein „neapel“ geht gleich ad hominem: „Die bloße Präsenz von Niebel in dieser Runde verhindert dass jemandem einfällt man könnte sowas ja staatlich regulieren.“ Twittertypisch auch der zurückgelehnte Sarkasmus, wie ihn „meander“ äußert: „OMG, es gibt Niedriglohnländer, in denen Menschen für unser Wachstum ausgebeutet werden?“ Unterdessen scheinen Jauchs Gäste um Twitter einen umso größeren Bogen zu machen, je wichtiger sie sich selbst einschätzen. Der SPD-Kanzlerkandidat sitzt in der Sendung zu Hoeneß zwar bei Jauch, äußert sich aber nur dort – und überlässt alles Übrige dem „SPD Parteivorstand“, der twittert: „Wie man Steuerbetrug konkret bekämpft, kann man im 8 Punkte Programm der SPD nachlesen.“

Dabei war der Talk zum „Fall des Uli Hoeneß – vom Saubermann zum Steuersünder“ vom 21. April 2013 mit so illustren Gästen wie eben Peer Steinbrück oder Thomas Gottschalk allein schon deshalb eine Ausnahme, weil hier der Böse (Uli Hoeneß) abwesend war. Aufmerksame Twitterer wie „chbarra“ witterten das sofort: „Stelle mir gerade vor, wie #Hoeness vor dem Fernseher hockt, sich ein Würstchen reinzieht und sich das doofe Gelaber bei #Jauch anguckt.“

Während manche nur brav nachtwitterten, was sie eben in der Sendung gehört hatten, brachte hier das Gros der Gemeinde seine eigene Meinung schon mit. Manche, wie „oOBanziOo“ fragten: „Ob’s #Hoeness wirklich EINGESEHEN hat? Ich zweifle mal dezent.“ Andere, wie „Mazingu_Dinzey“, stellten klar: „Nicht nur #FCB Fans stehen zu #Hoeness sondern auch viele andere, weil er großes für den deutschen Sport geleistet hat.“

Im Grunde vertraten auch die hochkarätigen Jauch-Gäste keine anderen Positionen, auch wenn der SPD-Kanzlerkandidat das Forum nutzte, um noch einmal das Wahlkampfmotto seiner Partei in Anschlag zu bringen: „Lassen Sie uns über Gerechtigkeit reden.“ Und dann kam wieder einer dieser herrlich irren Momente, wenn im Fernsehen alle durcheinanderreden, gerade so wie auf Twitter.

Stop.

Nach 240 Minuten „Günther Jauch“ und noch mehr Stunden bei Twitter wünscht man sich nur noch, dass endlich, endlich Ruhe einkehren möge.

Ah. Gut so.

„Diskussion“ – der Duden definiert sie als „Erörterung, Aussprache, Meinungsaustausch“. In diesem Sinne ist, wer Meinungen wirklich austauschen will, beim Polittalk noch immer besser aufgehoben als bei Twitter. Ob er wirklich gut aufgehoben ist, ist eine andere Frage. Das Budget und eine elfköpfige Redaktion ermöglichen es Jauch, seine Themen „boulevardesk“ zu präsentieren, mit Einspielfilmchen, lustigen Infografiken und anderem schnell vergessenen Brimborium. Im Mahlstrom der Meinungen bleibt davon nichts haften.

Was bleibt, sind Sätze.

Das Experiment

■ Zeit: Vier Wochen dauerte der Vergleich zwischen Twitter und Günther Jauch, begonnen hat das Experiment am 28. April 2013.

■ Ort: im Fernsehen und im Netz. Vier Jauch-Sendungen liefen in der Zeit, währenddessen und immer mal wieder: Twitter.

■ Themen: Bei Jauch gab es Themen zu Uli Hoeneß, dem veralteten Schulmodell, zu Krankenhäusern und Kleidung aus Bangladesch. Bei Twitter am Sonntagabend entsprechend. Sonst: re.publica, Heynckes, ein bisschen Shitstorm bei den Piraten.

Die können auch von Twitter kommen, wie etwa dieser Witz über das Gesundheitswesen, für den gekreuzigt worden wäre, wer ihn bei Jauch erzählt hätte: „Narkose? Privatpatient oder Kasse?“ – „Kasse“ – „Okay, La-le-lu, nur der Mann im Mond schaut zu …“ Diese humoristische Distanz gibt es nur in der Anonymität des Netzes, und deren Wert sollte nicht unterschätzt werden. Der Vorteil dieses Mediums ist seine anarchische Vielstimmigkeit, sein Nachteil die anarchische Vielstimmigkeit. Klassische „Jauch“-Premiumsätze wie „Wir wollen doch mal ehrlich miteinander sein“ oder „Wir müssen doch mal sortieren“ gibt es auch bei Twitter. Rhetorische Ausschussware, Schwamm drüber.

Denn was man sich als Zuschauer von einer Diskussion insgeheim erhofft, kann das Fernsehen gar nicht erfüllen, weil es nicht vorgesehen ist – das offene Ende. Der eigentliche Charakter des Politischen, das dauerhafte und ungewisse Ringen verschiedener Akteure, verbirgt sich auf dem Bildschirm hinter Meinungsmasken. Joviale Annäherung à la „Sooo weit liegen unsere Ansichten doch gar nicht auseinander, Frau Kollegin“ ist das höchste der Gefühle. Man stelle sich nur das singuläre Erlebnis vor, dass einer der beiden Kontrahenten am Ende sagen würde: „Sie haben mich überzeugt! Ich widerrufe!“ Sollte diese Anomalie einst eintreten, das Medium würde sich wahrscheinlich blitzartig zusammenfalten und in einem Wurmloch verschwinden.

Bei Twitter wäre eine offene Diskussion in diesem Sinne sogar noch unwahrscheinlicher. Hier redet, bis auf knappe Antworten, niemand miteinander. Was sich hier als „Debatte“ bezeichnet, ist tatsächlich nur eine Kakophonie aus mal zustimmenden, mal ablehnenden, dabei aber nie wirklich aufeinander Bezug nehmenden Geräuschen.

Keine Sorge, nächsten Sonntag reden wir weiter

Wäre ein Talk von Jauch ein Stück Musik, dann vielleicht eine der langatmigeren Ouvertüren von Wagner mit ihren einander streng umtanzenden Motiven. Würde man Twitter vertonen, käme vermutlich so etwas wie Karlheinz Stockhausens „Gesang der Jünglinge im Feuerofen“ dabei heraus, ein schrilles und nervtötendes Klanggewitter.

So ähnlich sich die beiden Medien in ihrer Sprachlosigkeit sind, so sehr unterscheiden sie sich doch in einem wesentlichen Punkt. Welches Problem bei Günther Jauch auch immer verhandelt wird, immer kreisen die Kontrahenten in ausreichendem Sicherheitsabstand um dessen Kern.

Eher unfreiwillig brachte dies der CDU-Gesundheitsexperte Jens Spahn auf den Punkt, als er allen Ernstes forderte: „Bitte nicht grundsätzlich das System in Frage stellen.“ Das steht bei Jauch nicht zu befürchten. Seine simulierten Diskussionen dienen gerade dazu, das System zu stabilisieren. Vielleicht ist genau das der Grund, warum die Deutschen sich so wahnsinnig gerne von Günther Jauch regieren lassen würden, der so souverän den Souverän markiert, den „kleinen Mann“. Es ist womöglich weniger sein Geschmunzel, wenn er in seinem Quiz am Fließband die Verlierer von den Gewinnern scheidet. Sondern seine Fähigkeit, die grundfalschen Fragen zu stellen: „Sind wir schuld am Tod der Näherinnen?“

Wer so fragt, will „uns“ kollektiv exkulpieren und zugleich Erkundigungen unterbinden, wer die wirklichen Akteure und Profiteure dieses ausbeuterischen Systems sind. Ist es ein Zufall, dass das Wort „Moderator“ dem lateinischen „moderare“ entstammt und „mäßigen“ bedeutet? „Günther Jauch“ ist, wie die meisten politischen Talks zu erträglichen Sendezeiten, alles andere als ein Hochamt der Debattenkultur. Es ist eine massentherapeutische Sitzung mit dem Ziel, alles so zu belassen, wie es ist. Wurde ja drüber geredet. Reicht das nicht? Keine Sorge, nächsten Sonntag reden wir weiter.

Bei Twitter wird diese strukturelle Schwäche geahnt, wie beispielsweise der Tweet einer „emmazissou“ andeutet: „Das schlimmste ist, wenn #Jauch die Welt erklären will und wir ihm Relevanz zusprechen.“ Wo aber Jauch an ein gewünschtes „wir“ appelliert, kommt bei Twitter im Prinzip immer nur das „ich“ zum Ausdruck. Das ist das Unbefriedigende, Lähmende und, ja, Erstickende an beiden Modellen – sie verhalten sich zueinander wie Skylla zu Charybdis.

Denn dem System ist es einerlei, ob die Systemfrage im Fernsehen ungestellt bleibt oder im digitalen Geschwafel untergeht. Es wird immer so weitergehen. Wir leben in der Kreidezeit.

Arno Frank, 42, ist taz-Korrespondent für Hessen, Saarland und Rheinland-Pfalz. Er schaut „Günther Jauch“, wenn er dafür bezahlt wird – und hat über asoziale Medien ein Buch bei Kein & Aber veröffentlicht: „Meute mit Meinung“