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Archiv-Artikel

Nachrichten aus der alltäglichen Lebensnot

GEGENWARTSDRAMATIK Die Autorentheatertage am Deutschen Theater schließen eine Lücke in der Berliner Theaterszene. Im Verlauf des kuratierten Festivals sind an 13 Tagen 15 Gastspiele neuer Stücke aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zu sehen

VON BARBARA BEHRENDT

Für den an Gegenwartsdramatik interessierten Berliner sind die Autorentheatertage (ATT) ein Glücksfall: Innerhalb von zwei Wochen gastieren am Deutschen Theater gut ein Dutzend Inszenierungen neuer Stücke aus Deutschland, Österreich und der Schweiz; in der „Langen Nacht der Autoren“ werden zudem drei Texte noch unbekannter Dramatiker vorgestellt. Eine bunte Mischung neuer Stücke holt sich das DT nun im vierten Jahr ins Haus; Intendant Ulrich Khuon hat das Festival aus seiner früheren Wirkungsstätte Hamburg mitgebracht, erfunden hat er es 1995 in Hannover. Diesmal sind unter anderem Rebekka Kricheldorf, Felicia Zeller und Moritz Rinke dabei, Elfriede Jelinek, Ewald Palmetshofer, Azar Mortazavi sowie Entdeckungen aus früheren „Langen Nächten“, Anne Habermehl, Laura Naumann und Nina Büttner.

Die ATT werden vom Publikum sehr gut angenommen, das DT schließt damit eine Lücke in der reichen Berliner Theaterszene. Nur: Das „derzeit wichtigste Festival für deutschsprachige Gegenwartsdramatik“ sind sie deshalb nicht. Mit diesem anmaßenden Superlativ im Programmheft hat das DT ein Eigentor geschossen – im Stadtmagazin Tip erntete es dafür prompt die gallige Replik eines Jurors der Mülheimer Theatertage, des tatsächlich wichtigsten Festivals für zeitgenössische Dramatik. Die Unterschiede liegen auf der Hand: In Mülheim wählt seit 38 Jahren ein Auswahlgremium aus allen deutschsprachigen Uraufführungen der Saison die stärksten sieben bis acht Stücke, aus denen dann beim Festival eine Jury in öffentlicher Debatte das Drama des Jahres prämiert. Am DT dagegen reist die Dramaturgie beliebig umher und lädt Stücke ein, die ihr gefallen. Dass darunter auch manche Namen sind, die dem DT nahe stehen, ist klar und nicht zu beanstanden. Die Mülheimer Theatertage sind ein Wettbewerb mit transparent diskutierten Kriterien, die ATT ein vom Theater selbst kuratiertes Festival.

Harmlose Groteske

Einige Stücke sind zu beiden Festivals eingeladen, das spricht für ihre Qualität. Felicia Zellers „X-Freunde“ ist eine treffsichere Sprachkomödie über die moderne Stressgesellschaft. Bettina Bruiniers Uraufführung am Schauspiel Frankfurt treibt das Stück in die Groteske, verharmlost und verjuxt es aber auch. Nach dem Gastspiel in Berlin bekam Zeller den erstmals vergebenen, mit 5.000 Euro dotierten Hermann-Sudermann-Preis verliehen. „Das Stück ist auch deshalb so bemerkenswert, weil die Autorin den Mut hat, die Banalität unserer alltäglichen Lebensnot noch einmal aufzutischen“, lobte der Theaterkritiker Gerhard Jörder in seiner Laudatio.

Auch an Rinkes „Wir lieben und wissen nichts“ kamen beide Festivals nicht vorbei. Es wird bis zur nächsten Spielzeit zwölfmal inszeniert worden sein und gilt als Renner der Saison. Mathias Schönsee vom Konzert Theater Bern nimmt die beiden Paare, die sich in diesem Kammerspiel ums Lieben und Leben streiten, ernst, benutzt sie nicht als Pointenschleuder. Rinke selbst schwärmt von dieser Inszenierung und ihrem komisch-tragischen „Doppelton“, auf den es ihm ankomme.

DT-Hausregisseur Stephan Kimmig durfte gleich zwei aushäusige Arbeiten präsentieren: Palmetshofers „räuber.schuldengenital“ vom Wiener Burgtheater und das Stuttgarter Doppel mit Franz Xaver Kroetz’ „Stallerhof“ und Stephan Kaluzas „3D“ – zwei Stücke zum Thema Kindsmissbrauch. In „3D“ stellt die vergewaltigte Tochter nach 20 Jahren ihren Vater zur Rede; verkleidet als ihre Mutter wird sie zum blonden Racheengel. Wie die stereotype Dramaturgie des amerikanischen Enthüllungskrimis hier dem Missbrauchstrauma übergestülpt wird, löst Unbehagen aus, sie wirkt geradezu missbräuchlich.

Ein gelungener Drahtseilakt dagegen in der Box: Philipp Preuss hat Nina Büttners „Schafinsel“ am Pfalztheater Kaiserslautern uraufgeführt. Der Text, ausgezeichnet mit dem Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreis, mäandert zwischen realistischem Volksstück und Boulevardgroteske. Die junge Prostituierte Nori steht dabei zwischen dem Schlägerproll Toni und dem stotternden Schiller-Fan Henning. Preuss misstraut dem Realismus des Stücks, zieht es ins Schrille, sodass eine frappante Balance entsteht zwischen dem Spiel mit Klischeefiguren und dem Vergnügen, diese Figuren auszustellen. Vor dem Finale der „Langen Nacht“ gibt es noch sieben Gastspiele. Nicht darunter – und schmerzlich vermisst – zwei der wichtigsten Stücke der Saison: Nis-Momme Stockmanns Kapitalismus-Revue „Tod und Wiederauferstehung der Welt meiner Eltern in mir“ und Katja Brunners Missbrauchsstück „Von den Beinen zu kurz“, beide vom Schauspiel Hannover.