MODE, REGELN UND HANDLUNGEN OHNE WERK
: Der zugeknöpfte Mann

Bestellen und versenden

VON ARAM LINTZEL

Als an dieser Stelle vor Kurzem die „konservativen Libertins mit aufgeknöpftem Hemd“ in die Mangel genommen wurden, waren einige meiner mediterran gesinnten Bekannten pikiert. Dabei lässt es sich gar nicht leugnen: Am obersten Hemdknopf hängen ganz große politische Fragen. Cicero, das Fachmagazin für Herrschaft und Herrlichkeit, überlegt in seiner neuesten Ausgabe, warum immer mehr Politiker ohne Krawatte und mit offenem Hemdknopf auftreten. Neue Erkenntnisse liefert der Beitrag von Katrin Wilkens leider nicht. Sicher doch: Das geöffnete Politikerhemd soll permanente Dienstbereitschaft signalisieren und dass sein Träger unkonventionell und näher dran am Plebs als am Protokoll ist.

Die Cicero-Analyse mit dem Titel „Strategischer Stofflappen“ folgt binärem Denken: entweder Krawatte oder nicht, entweder formal oder casual, tertium non datur. Dass es sehr wohl einen dritten Weg gibt, lässt sich in dem großartigen Ein-Thema-Buch „Buttoned-Up“ nachlesen. Es wurde von der Zeitschrift Fantastic Man im Rahmen einer Buchreihe zum 150-jährigen Bestehen der Londoner Tube herausgebracht. Darin befassen sich diverse Autoren mit dem grassierenden Phänomen des zugeknöpften Hemdes ohne Krawatte, auch air tie (Luftkrawatte) genannt. Sie erkennen darin weit mehr als die Aneignung einer ästhetischen Schrulle der britischen Working Class durch Mittelschichtshipster. Das Interessante am Buttoned-up-Outfit ist, dass es die Grenze zwischen casual und formal verwischt, wie der Modejournalist Alexander Fury in seinem Beitrag schreibt.

Anders gesagt: Der zugeknöpfte Mann bewegt sich in einer Zone der Unbestimmtheit, im Grenzbereich zwischen locker und unlocker, fremdbestimmt und selbstbestimmt, uniformiert und abweichend. Das so getragene Hemd signalisiert die infantile Unterwerfung unter das Regime des Vaters. Gert Jonkers und Jop van Bennekom von Fantastic Man weisen im Vorwort darauf hin, dass der bis oben geschlossene Kragen das Erscheinungsbild infantilisiere und an die ersten Schultage erinnere. Männer kleiden sich wie Kinder. Ist es also so, dass die hippen Hochgeschlossenen sich insgeheim nach dem schulischen Takt der Disziplinargesellschaft zurücksehnen, der ja auch im klassischen Angestelltenverhältnis seine Fortsetzung findet? In Siegfried Kracauers Studie „Die Angestellten“ aus dem Jahr 1930 lässt sich nachlesen, dass Arbeitgeber-Patriarchen ihre Untergebenen damals mit „Mein Kind“ anredeten.

Der obere Knopf bringt demnach ein fordistisches Begehren zum Vorschein. Er ruft den väterlichen Boss an, der gerade in jenen posthierarchischen Kreativindustrien Ostlondons fehlt, in denen dieser Look laut Jonkers und Bennekom überpräsent ist. Die kindliche Sehnsucht nach klaren Top-down-Verhältnissen bleibt aber in Zeiten des flexibilisierten Kapitalismus ambivalent. Denn der geschlossene Knopf steht noch für etwas anderes: Während sein Träger sich unterwirft, muckt er zugleich auf gegen allzu straffe Regeln und behauptet stilistischen Eigensinn. Die anwesende Abwesenheit der Krawatte steht somit für die abwesende Anwesenheit des väterlichen Gesetzes, für dessen vakante Wirklichkeit und all die kleinen Widerstände, die seine Wirkung unterminieren.

Die Luftkrawatte ist genauso ambivalent und doppelsinnig wie die prekarisierten Bedingungen, unter denen es getragen wird. So wie Prekarität mit realer Emanzipation koexistieren kann, so koexistieren im Buttoned-up-Dispositiv Disziplin und Freiheit. Die individuelle Geste schnürt sich buchstäblich selbst die Luft ab; „Repression“ heißt passenderweise der Aufsatz von Simon Reynolds in „Buttoned-Up“. Darin widmet er sich dem „fast schon masochistischen“ Look der Mods, der gegen Regeln mit noch strikteren Regeln opponiere. Freiheit durch Unterwerfung, und unter dem Kragen lauert die Gewalt.

Im Gegensatz zu den dezent geöffneten Politikerhemden, die Cicero feuilletonisiert, ist das zugeknöpfte Hemd ohne Krawatte mehr als eine schlichte Lockerung der Etikette. Dieses Stilstatement markiert keine Identität, sondern eine Virtuosität im Umgang mit äußeren Bedingungen. So gesehen ist die Luftkrawatte eine dieser „Handlungen ohne Werk“, auf die es laut dem Philosophen Paolo Virno heutzutage allerorten ankommt.

■ Aram Lintzel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Grünen-Bundestagsfraktion und freier Publizist in Berlin