Ich will mein Leben zurück

Der Begriff Entfremdung ist zuletzt arg ramponiert worden. Rahel Jaeggi renoviert ihn auf furiose Weise

VON ROBERT MISIK

Zu den dümmsten Redensarten zählt: Das wirkliche, pralle Leben stehe gegen die „blutleere Theorie“. Nichtsdestoweniger gehört es zu den vertrackten Problemen, dass philosophische Abstraktion und Alltagsverständnis in eine gewisse Spannung geraten können – ohne dass sich leicht sagen ließe, die Theorie sei „richtiger“ als das Alltagsverständnis.

Das Thema „Entfremdung“ ist ein Beispiel für eine solche Konstellation. Wir können uns in Situationen als entfremdet empfinden, andere als „unauthentisch“ erleben – auch wenn wir über die Schwierigkeiten Bescheid wissen, die der Entfremdungsbegriff macht. Der war in den letzten Jahrzehnten theoretisch arg zerzaust worden, setzt er doch die Annahme eines metaphysischen Wesens des Menschen voraus, von dem man sich entfremden könne; unterstellt der doch, Personen verfügten über ein wahres inneres „Selbst“, einen Kern, den sie in ihrem Leben verfehlen können; insinuiert er doch auch, Menschen könnten von ihren „richtigen“ Wünschen entfremdet sein, auch wenn sie von diesen gar nichts wissen; postuliert er schließlich, wir wären nur dann ganz bei uns, wenn wir keine Rollen spielen, unverstellt durchs Leben gehen.

Mit solchem pausbäckigem Essenzialismus hat die (post-)strukturalistische Subjektkritik so aufgeräumt, wie es zuvor der pragmatische Liberalismus mit der paternalistischen Vorstellung machte, es gäbe ein objektiv „gutes Leben“ jenseits der subjektiven Wünsche der Leute. Angesichts dieser längst fundamentalen „Kritik der Entfremdungskritik“ hat sich die in Frankfurt lehrende Philosophin Rahel Jaeggi eine wahrlich große Aufgabe gesetzt: die Entfremdungskritik zu renovieren.

Sie weiß, dass es keinen „Maßstab (…) für die Echtheit von Bedürfnissen“ gibt, das „eigentliche oder wahre Selbst“ nichts ist, was irgendwo „innen lokalisiert“ wäre – weil es doch keine Wahrheit des Selbst jenseits seiner Äußerungen gibt. Auch entwickelt sich das Selbst in der Auseinandersetzung mit den äußeren Bedingungen, und diejenigen, die sich von fremden Wünschen leiten lassen, haben sie schließlich selbst.

Doch, so lautet der Einwand Jaeggis, wenn wir uns auch nicht unserem „eigentlichen Wesen“ entfremden können, gibt es doch entfremdete Weisen des Lebensvollzugs. „Entfremdungskritik unter heutigen Bedingungen darf nicht, muss aber auch nicht in einem starken Sinn ‚essenzialistisch‘ oder ‚metaphysisch‘ begründet sein.“ Die E-Frage ist, ob es einem gelingt, „sich zu sich und den Verhältnissen, in denen man lebt und von denen man bestimmt ist, in Beziehung zu setzen, sie sich aneignen zu können“.

Nicht dass wir Rollen spielen, ist das Problem – entscheidend ist, ob wir Autoren des Skripts sind. Wenngleich gewiss niemand alleiniger Autor seines Lebensvollzugs ist, so sollte er doch zumindest als Koautor seiner selbst amtieren. „Was hier entfremdend wirkt, sind nicht die Rollen per se, sondern die Unmöglichkeit, sich in ihnen angemessen zu artikulieren“, formuliert Jaeggi und: „Die Suche nach Authentizität jenseits solcher Formen wäre ein sinnloses Unterfangen – diejenige nach Authentizität in ihnen ein immer wieder neu sich stellendes Problem.“ Unhaltbar ist die Behauptung, „dass wir durch Rollen überhaupt ‚unserer selbst entfremdet‘ sind“, sehr wohl aber sind wir es „manchmal in Rollen“.

Entfremdung, so die Autorin, ist eine spezifische Form von Machtverlust: Man driftet durchs Leben, die Dinge passieren einfach, das eigene Leben nimmt sich als selbstständiges Geschehen aus, „auf das man keinen Einfluss hat“. Sich mit der Welt nicht entfremdet in Beziehung zu setzen, heißt, sich diese anzueignen. Diese Aneignung ist getragen von der Fähigkeit, die Umstände des eigenen Lebens auch zu prägen.

Gerade in diesem Sinn ist das „entwickelte Selbst“ nichts vorgängig Gegebenes, sondern Resultat eines Aneignungsprozesses. So ist auch erklärbar, dass sich jemand verändern, aber doch authentisch bleiben kann. Veränderung heißt weder notwendigerweise, sich seinem Selbst zu entfremden, noch sich diesem zu nähern; unauthentisch kann aber sehr wohl der Prozess der Veränderung sein. Die Frage ist nicht, ob Subjekte alte Ideale, Lebensweisen etc. aufgeben, sondern „wie sie sie aufgeben“. Jaeggi: „Entscheidend ist, ob man den Prozess in die eigene Lebensgeschichte bzw. das eigene Selbstverständnis integrieren kann.“

Kurzum: Der Mensch, so Jaeggi, kann sehr wohl in entfremdete Beziehungen verstrickt sein – zur Welt, zu anderen, zum eigenen Leben. Jaeggis „Entfremdungsdiagnose ohne Kernmodell“ rettet vom alten Entfremdungsbegriff, was von diesem tauglich ist. Produktiv sei der Begriff, weil mit ihm Sachverhalte beschrieben werden können, die ohne ihn nicht formulierbar wären. Dass er dennoch in einer gewissen Schwebe bleibt, ist kein Mangel, sondern Ausweis dieser Produktivität – alle theoretisch ergiebigen Begriffe haben eine solche Unschärfe.

Jaeggi dekliniert die theoretischen Aporien des Entfremdungskonzepts souverän durch, und dass ihr das streckenweise in der warmherzigen Sprache der Lebensführungsliteratur gelingt, ist ein kleines Kunststück. Dass sie es versucht, ergibt sich freilich beinahe zwingend aus den Fragen, von denen die Entfremdungsdiagnose handelt. Denn schließlich, so Jaeggi, geht es darum, „mit sich selbst umgehen zu können“.

Rahel Jaeggi: „Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems“. Campus Verlag, Frankfurt 2005, 272 Seiten, 24,90 Euro